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Weiter Schreiben Mondial - Briefe > Rasha Azab & Lina Atfah > Ein Brief an mich im Briefkasten meiner Nachbarin oder ein Falscheinwurf - Brief 2

Ein Brief an mich im Briefkasten meiner Nachbarin oder ein Falscheinwurf – Brief 2

Lina Atfah an Rasha Azab, Wanne-Eickel, 13. September 2022

Übersetzung: Osman Yousufi aus dem Arabischen

Familie und Nachbarn am Rande des Daches im Jahr 1997. Ich lege meinen Kopf auf meinen Arm. © Privat.

Liebe Rasha,

Deine Wörter brachten mich weit weg, zurück zu einer Erinnerung, der ich seit langer Zeit nicht mehr nahegekommen bin. Ich fand mich durch die Gassen schlendern, auf erdigen, mit Kies und Schlaglöchern übersäten Pfaden, und weiter bis zu dem Haus meines Großvaters, geistesabwesend den Weg entlang, von dem ich nicht genau sagen kann, wie lang oder kurz er war. Ein trügerischer Weg manövrierte die Zeit nach meiner Laune.

Ich schloss meine Augen über einem Stern am Himmel Deiner Geschichte und öffnete sie auf viele Sterne an einem Himmel, den ich verloren hatte. Wenn die Vorstellungskraft unser letztes Überlebensmittel ist, verdient sie es, auf Papier gebracht und gefeiert zu werden, weil sie uns ermöglicht trotz allem weiterzuleben.

An Sommerabenden gingen wir zum Elternhaus meiner Mutter. Es bestand aus zwei Stockwerken. Mit dem Geld, das mein Großvater mit der Vermietung der beiden kleinen Wohnungen und des Ladens im ersten Stock verdiente, baute er im zweiten Stock drei Zimmer: eines für meine Großmutter und sich selbst, eines für ihre neun Kinder und eines für die Gäste mit kleiner Küche und Bad. Ein großer Teil des Hauses blieb unbebaut und so wuchsen an mehreren Stellen Metallstäbe aus dem Boden, die es meinem Großvater jederzeit ermöglichen sollten, weiterzubauen. Wir nannten diesen unbebauten Bereich um die drei Zimmer herum nicht Hof, Garten oder Balkon, sondern einfach nur: Dach. Das Dach war also kein Dach, sondern eine Verlängerung des Hauses und lag so in einem zänkischen Streit zwischen seinem Namen und seiner Natur. Auf einer Seite der Freifläche standen verfärbte Blechkanister, die einmal für Öl, Ghee und Käse benutzt wurden und jetzt von meiner Großmutter mit Erde befüllt und mit Rosen, Trauben und anderen Ziergewächsen bepflanzt wurden.

Im Sommer wischten meine Tanten den Boden des Dachs und holten Matratzen und Kissen heraus, um unter dem nahen Sternenhimmel zu schlafen. Wenn ich dort lag, war mir warm unter der Bettdecke, während die Kälte mir ins Gesicht stach und meine Augen vor Schläfrigkeit brannten, weil ich nicht aufhören konnte, die Sterne zu zählen. Der Geruch des Sommers an diesem Ort weht aus meiner Erinnerung her und mein Körper zittert, weil ich ein tiefes Verlangen zu weinen unterdrücke. Was ist mit den Orten passiert, die ich zurückgelassen habe? Was ist mit den Menschen passiert, die mein Gedächtnis prägten und mir die Zügel des Lebens in die Hand legten?

Das Haus meines Großvaters ist heute zu einer Bestattungshalle geworden, in der sich die Leute meiner Stadt versammeln, um sich gegenseitig ihr Beileid auszusprechen. Warum nicht? In meiner und vielen anderen syrischen Städten gab es die Tradition, für drei Tage ein Trauerzelt auf der Straße aufzustellen, um die Trauernden zu empfangen. Heute müssen Syrerinnen und Syrer ihre Zelte in allen möglichen Himmelsrichtungen aufschlagen, und ich sehe kein Problem darin, wenn das Haus nun die Rolle eines Trauerzeltes übernimmt.

In das Haus meines Großvaters väterlicherseits, in dem ich geboren wurde und in dem meine kleine Familie lebte, ist mein Onkel mit seiner Familie gezogen, nachdem sie vom IS angegriffen und aus ihrem Dorf vertrieben worden waren. Ich habe immer gesagt, dass sich Schicksale drehen, und so ist es: Wir wurden Flüchtlinge und unser Familienhaus hat dafür Flüchtlinge aufgenommen!

Das erinnert mich an diese Verse von Mahmud Darwisch:

„Warum hast du das Pferd allein gelassen?

Damit es dem Haus Gesellschaft leistet,

mein Sohn, denn Häuser sterben, wenn ihre Bewohner fort sind.“[1]

Unsere Häuser sind, genau wie wir, nicht vollständig gestorben. Sie haben sich verändert und umgeformt, ihre Abwesenheit von uns, unsere Abwesenheit von ihnen und all die Identitäten und Geschichten, die diese Abwesenheit gebiert, haben sie schwanken lassen.

Ich schließe meine Augen über einem Stern, der in Deinen Zeilen leuchtet, und sehe, wie tief, weit und dunkel das Universum ist. Eine Ehrfurcht lässt mein Herz erbeben, bevor ich unter den endlosen existenziellen Fragen und der Hilflosigkeit angesichts dessen, was passiert ist und immer noch passiert, zusammenbreche. Ich denke an die Flucht aus meinem Land, das Erstaunen über jeden einzelnen Verlust und den hohen Preis, den wir für die Willkür zahlen müssen, egal wie exorbitant hoch er ist.

Ich fliehe in den Park in der Nähe meiner Wohnung in meinem neuen Ort und betrachte das Geschrei der Gänse, während sie mit Schnäbeln und Flügeln um Brotkrümel kämpfen. Mein Lächeln gilt der Zeit, dem Verlust und dem Leben. Ich akzeptiere den Lauf der Dinge, mit einer Träne und ein paar Wörtern, die ich schreibe, um mich zu retten. Ich musste überleben …

So wurde dem Gedicht das Wort „Heimat“ schwer, romantisch, zerbrechlich und vielleicht sogar leer … Es ist eine Illusion … Ein Nebel auf dem Herzen, der uns daran hindert, das Leben außerhalb der Mauern dieser Buchstaben zu erkennen. Was ist das Zuhause? Ist es das Haus der Kindheit oder sind es die Häuser, in die wir umziehen, die Häuser, die unsere Leben umarmen? Ist es das Haus, der Weg nach Hause oder der Himmel, der das Haus überwölbt?

Ich habe in zwei verschiedenen Wohnungen in Deutschland gelebt und kein Verlustgefühl gespürt, als ich sie verließ. In Syrien hat es schon gereicht, eine Etage auf dem Dach hinzuzufügen, ein eigenes Zimmer für meine Schwester und mich zu haben oder den Friedhof gegenüber in einen Park verwandelt zu sehen, um mich entfremdet, weggezogen und in Stücke zerbrochen zu fühlen. Vielleicht ist es so: Je weiter wir von Zuhause entfernt sind, desto weicher und zahmer wird die Nostalgie, bis die ganze Erde unser Zuhause wird.

Ich habe einmal gelesen, dass eine Biene sich verirrt und nicht wieder nach Hause findet, wenn sie mehr als sieben Kilometer von ihrem Stock entfernt ist. Ich bin fünftausend Kilometer von Salamiyah entfernt. Trotzdem sehne ich mich nach nichts und nichts tut mir weh, außer Erinnerungen, die zu Alpträumen werden. In einem dieser wiederkehrenden Träume stecke ich jedes Mal in unserem Haus fest, mein Pass ist verloren und ich kann nicht ausfliegen. Ich habe eine endlose Angst und suche meine Familie in den leeren Räumen. Wenn ich dann aufwache, weine ich.

Stell Dir vor, gestern habe ich geträumt, dass meine Freunde, ein deutscher Dichter und seine Frau, ihre Pässe verloren hatten und mit mir in unserem Haus in Salamiyah feststeckten. Der Traum war wie ein Horrorfilm. Ich schwor den Geheimdienstagenten, dass sie nur Gäste aus Deutschland seien und deshalb heimkehren müssten.

Ich habe immer gesagt, dass Verluste uns Freiheit und die Gnade der offenen Faust schenken, aber meine vollständige Freiheit ist noch nicht erreicht, solange mich meine Angst in meinem Traum verfolgt. Ich versuche die Angst zu zähmen, indem ich ihr jeden Abend vor dem Schlafen einen Brief schreibe. Die Alpträume sind dadurch weniger häufig geworden, und das Schreiben, das sich anfangs hartnäckig sträubte, fließt inzwischen. Doch wer sagt, dass die Angst bezähmt werden kann, wenn man an sie schreibt, und wer sagt, dass dies ein tiefes Bedürfnis der Seele ist? Was die Angst wirklich bezähmt, ist, einer Freundin zu schreiben!

Liebe Rasha, obwohl der Briefträger Deinen Brief in den Briefkasten meiner Nachbarin warf, erreichte er mich. Ich schließe meine Augen über Deinem leuchtenden Stern, über dem Fluss, der Wüste, den Häusern, den Geschichten und den schönen Zeilen, die Du mir schriebst, dann packe ich die Angst am Nacken wie eine Katze und schreibe meine Geschichte, die ich immer verliere auf der Suche nach den Antworten.

Lina

 

[1] Darwin Mahmud: Warum hast du das Pferd allein gelassen? Übersetzung aus dem Arabischen von Christine Battermann, Verlag Schiler & Mücke, 2015.

 

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