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Wie die Glieder einer Kette – Brief 2

Raha Mozaffari (Pseudonym) an Elke Schmitter, 13. Oktober 2022

Übersetzung: Dr. Lutz Rzehak aus dem afghanischen Persisch

Vorhang vor Fenster und Tisch mit Notizbuch und Stift © Raha Mozaffari
© Raha Mozaffari

 

Liebe Elke!

Ich bin froh, dass wir begonnen haben uns austauschen – trotz der Entfernung von Tausenden Kilometern. Du bist in Deutschland und ich bin in Afghanistan, aber diese Entfernung bedeutet nicht, dass wir nichts gemeinsam haben. Es freut mich, dass Du meine Geschichte gelesen hast. Meine Geschichte beruht auf vergangenen und gegenwärtigen Begebenheiten und auf den Traditionen Afghanistans. Auf Traditionen, die afghanischen Frauen den Willen nehmen, über wichtige Dinge in ihrem Leben zu entscheiden.

Die Anregungen für meine Geschichten finde ich, wenn ich den Worten meiner Mutter zuhöre. Meine Mutter ist eine gute Erzählerin und geschickt darin, die Leiden zu beschreiben, die sie selbst und andere Frauen erfahren haben. Sie erzählt mir, wie beschwerlich es für afghanische Frauen war, während all der Kriege in unserem Land Kinder aufzuziehen, wie sie mit der Armut zurechtgekommen sind und wie ihre Gefühle unterdrückt wurden. Meine Mutter erzählt entsetzliche Geschichten über Zwangsverheiratungen, wie selbst ich sie mir nicht mehr vorstellen kann. Es sind Geschichten über sehr traditionelle Heiraten, bei denen alles vom Vater der Familie entschieden wird. Stundenlang höre ich ihr zu.

Zu Jane Austen muss ich sagen, dass ich vor einigen Jahren zwei Romane von ihr gelesen habe und das leidenschaftliche Gefühl in ihren Werken nachempfinden kann. Die Sinnlichkeit von Frauen, die Jane Austen in ihre Werke gepackt hat, wurde in unserer Gesellschaft unterdrückt. Am stärksten zeigt sich das bei den Eheschließungen. Romantische Ehen, die auf gegenseitiger Liebe von Frau und Mann beruhen, kommen in unserem Land selten vor. Wenn eine Familie erfährt, dass ihre Tochter eine Liebesbeziehung zu einem Jungen unterhält, dann wird dieses Mädchen umgehend verheiratet. Sie soll keine Gelegenheit mehr haben, auch nur an Liebe zu denken.

Liebe Elke, als junge Frau möchte ich Dir von meinen unterdrückten Gefühlen erzählen. Seit einem Jahr und einigen Monaten befindet sich Afghanistan unter der Regierungsgewalt der Taliban. Diese Zeit hat mir nicht nur die schlimmsten Tage meines Lebens beschert, sie hat sich auch sehr negativ auf all meine Hoffnungen und Wünsche ausgewirkt.

Ich weiß noch, wie ich als Mädchen von vierzehn Jahren in der Schule einen Aufsatz geschrieben habe. Der Lehrer hat mich gelobt, die ganze Klasse applaudiert. Seit diesem Tag träume ich davon, Schriftstellerin zu werden. Aber nicht einmal mit meiner eigenen Mutter konnte ich offen über diesen Traum reden, denn wir haben grundverschiedene Vorstellungen darüber, was Erfolg für eine Frau bedeutet. Sie sieht den ganzen Erfolg eines Mädchens darin, dass sie heiratet. Für mich bedeutet ein erfolgreiches Leben, Schriftstellerin zu werden.

Jetzt bin ich vierundzwanzig Jahre alt. Seit meiner Schulzeit lese und schreibe ich, aber nicht einmal mit den engsten Familienmitgliedern kann ich frei über das Schreiben reden. Mit dem Eintreffen der Taliban und mit ihren strengen Maßnahmen gegenüber Frauen beginnt mein Traum sich allmählich aufzulösen, obwohl ich schon Geschichten veröffentlichen konnte. Ich frage mich, wie ich in einem Land leben soll, in dem die Machthaber das Volk mit dem Gewehr regieren, in dem Mädchen kein Recht auf Bildung haben und statt bunter Kleider schwarze Gewänder tragen müssen, die vom Kopf bis zu den Füßen reichen. Ich spüre, wie die Träume in mir selbst und bei anderen Mädchen und jungen Frauen meines Landes in Vergessenheit geraten. Wenn ich jetzt ein Mädchen frage, was sie in Zukunft werden möchte, ist die Heirat das Einzige, das ihr in den Sinn kommt. Die Schulen sind geschlossen und auch sonst haben sie keine Hoffnung auf eine strahlende Zukunft. Junge Mädchen von dreizehn, vierzehn Jahren werden zur Heirat gezwungen. Sie haben keine Alternative. Sie müssen ihre mädchenhaften Gefühle vergessen und daran denken, ihre Kinder aufzuziehen. Meine liebe Freundin! Du schreibst in Deinem Brief, dass man auch in Eurer Gesellschaft Mädchen eingeredet hat, ihre wichtigste Aufgabe sei es, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Gibt es solche Anschauungen in Eurer Gesellschaft auch heute noch? Ich dachte, dass Frauen in europäischen Ländern Handlungsfreiheit haben. Ich möchte das unbedingt erfahren.

Ich möchte Dir noch von einem Erlebnis erzählen, das ich vor kurzer Zeit hatte. Es war am Freitag, dem 30. September 2022. Wie immer bin ich aufgestanden und habe meine Facebook-Timeline gecheckt. Es war acht Uhr morgens, als ich die erschütternde Nachricht las: In einem Bildungszentrum in Kabul, es heißt Kadsch, gab es eine Explosion. Hunderte von Teenagern und jungen Menschen waren ums Leben gekommen. Ich weiß nicht, ob Du etwas darüber gehört hast. An diesem Morgen konnte ich nur noch weinen. Ich dachte daran, wie die Wünsche all dieser jungen Menschen in wenigen Sekunden zerstört wurden. Ich scrollte die Facebook-Seite nach oben und nach unten, aber alles, was ich sah, waren Nachrichten über die Explosion. Eines der Opfer war Marziya. Marziya war ein junges Mädchen, das davon träumte, einmal die berühmte türkische Schriftstellerin Elif Shafak zu treffen. Sie liebte Paris und wollte den Eiffelturm sehen. Jetzt ist dieses Mädchen mit all ihren Wünschen und Träumen in der Kürze eines Wimpernschlags im Blut erstickt.

Seit zwei Wochen geht es mir sehr schlecht, obwohl ich die Opfer nicht kannte. Ich spüre, dass wir Menschen wie die Glieder einer Kette miteinander verbunden sind. Wenn jemandem Leid widerfährt, spüren die anderen dessen Schmerz. Seit zwei Wochen habe ich Albträume. Heute Nacht habe ich geträumt, wie die Taliban eine Mädchenschule angreifen und einen Kugelhagel gegen die Mädchen eröffnen.

Seit einem Jahr und einigen Monaten lese ich weniger und ich schreibe weniger. Ich werde immer verzweifelter und fühle mich, als wären meine Gefühle in einem Käfig eingesperrt. Ich weiß nicht mehr, wann ich zum letzten Mal aus tiefstem Herzen gelacht habe. Trotz allem weiß ich, dass kein Leid und kein Schmerz ewig hält und dass es immer einen Tiefpunkt gibt.

Und ich weiß, dass der Tag kommt, an dem unsere Gefühle und unsere Sinnlichkeit im Sinne Jane Austens ihren Weg in der Welt finden werden, dass ein Tag kommt, an dem die Mädchen in meinem Land frei leben können. Ich hoffe, dass ich an diesem Tag noch atmen kann.

Deine Freundin

Raha

 

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