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Liebe und andere Fehler – Brief 1

Elke Schmitter an Raha Mozaffari (Pseudonym), Berlin, 15. September 2022

Übersetzung: Ali Abdollahi ins Persisch

Frauen aus vielen Ländern und Epochen, die Schreiben: u.a. Sylvia Plath, Isabel Allende, Agatha Christie, Margaret Mitchell, eine Brontë und rechts unten Elke Schmitter © Privat

Liebe Raha,

dies wird ein Brief an eine Unbekannte. Was wir voneinander wissen: Wir sind Frauen, und wir schreiben. Unser Altersunterschied beträgt beinahe vier Jahrzehnte. Du lebst in Afghanistan, ich in Deutschland. Wir haben unsere Stimmen am Telefon gehört, und ich habe eine Kurzgeschichte von Dir gelesen.

Über: eine junge Frau, die als junges Mädchen blind wurde und nach langem Zögern einen Mann heiratet, dem sie nie zuvor begegnet ist. Doch dieser Mann sucht eine Frau, die für ihn sorgt, und sie will ihrem Bruder und seiner Familie nicht zur Last fallen. Und dieser Mann, ein Witwer, ist der Familie immerhin gut bekannt; er wird sie achten, sagt man ihr, und so kommt es auch. Eine romantische Liebe ist es nicht. Die hat die junge Frau aber empfunden; damals, als sie noch sehen konnte. Ein junger Mann, der vor den Taliban in den Iran geflohen ist. Und nun, zehn Jahre später, kommt er zurück …

Die Vernunftehe, die romantische Liebe, deren Abwägung gegeneinander: das ist der früheste Romanstoff, mit dem ich meine Mädchenseele gefüttert habe. Mit einer Autorin, die damals in Deutschland nicht so populär war, wie sie es heute ist, wahrscheinlich auch wegen der zahlreichen (und oft sehr guten) Verfilmungen, die es von ihren Romanen gibt. Jane Austen ist „weltweit“ populär, wie es in solchen Fällen schnell heißt. Aber bedeutet das, dass Du sie kennst, ist Dir mal etwas von ihr in die Hände geraten, gibt es eine Bibliothek in Deiner Nähe, wo sich etwas von ihr findet, und bist Du da als Leserin willkommen?

Alle Heldinnen von Jane Austen ergründen ihr Herz auf diese Frage hin, wieder und wieder: Liebt er mich und liebe ich ihn, und lieben wir uns auch wirklich? Und über diese Wirklichkeit verhandelt die Gesellschaft unaufhörlich mit, denn die Entscheidung über die Ehe ist die einzige von Bedeutung, die diesen jungen Frauen vergönnt ist, da sollten sie keinen Fehler machen … Denn dieser eine Fehler, sagt die Vernunft – vertreten von den Älteren, den Realisten, den Enttäuschten –, währt lebenslang. Und er kann viele Facetten haben. Nicht nur, weil die romantische Liebe den Blick der Wahl verschleiert und so nur Nichtverliebte sehen, dass ein attraktiver und umgänglicher junger Bewerber ein notorischer Lügner sein kann, während das schroffe Auftreten des Konkurrenten ein großes, empfindsames Herz beschützen soll … Sondern auch, weil selbst von einer mit großer Verliebtheit geschlossenen Ehe gemeinhin doch nur Routine und Gereiztheit übrig bleiben, wie es diverse ältere Herrschaften durch ihr Verhalten zeigen. Am Ende, sagt die Vernunft, geht es um Verträglichkeit: der Charaktere, der Besitzverhältnisse, der Milieus und der Familien. Und sie hat die Erfahrung auf ihrer Seite.

Man sollte also auf die Älteren hören, auf die Vernünftigen. Anderseits: warum auf die Enttäuschten hören? Schließlich sehen eben nur die engsten Vertrauten und eben Verliebte das wahre, schöne Wesen ihrer Auserwählten, schließlich ist diese Wahl des Herzens die einzig unbestechliche. Und ist die Intuition, die unerklärliche, aber leidenschaftliche Entscheidung nicht das Einzige, worauf man sich verlassen kann in der ewig schwankenden Welt? Und sollten nicht wenigstens die Fehler in einem ungewissen Leben die eigenen sein?

Deine Geschichte hat mir die Erinnerung an all das zurückgebracht. Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, hat mir nie suggeriert, dass mein Leben durch die Liebeswahl bestimmt sein sollte. Was willst du werden, was willst du lernen, das waren die Fragen, die von meiner Mutter und meinen Großmüttern kamen. Die um so mehr zu schätzen wussten, dass ich andere Möglichkeiten hatte als sie – insofern für sie das Leben als Frau, als Ehefrau und Mutter, fast schon das ganze Leben war. Vielleicht habe ich, ihr Schicksal vor Augen, diese Romane deshalb so intensiv gelesen: um zu verstehen, warum sie – in dieser Hinsicht – nicht meine Vorbilder sein wollten.

Auch Jane Austen war eine Überflüssige; sie lebte bei einem Bruder, wie Deine Heldin, denn als Frau erbte sie so gut wie nichts. Sie konnte sich dennoch gegen eine Versorgungsehe entscheiden. Nicht, weil sie mit ihren Büchern – trotz bemerkenswerter Erfolge – nennenswert Geld verdient hätte. Sondern weil die Verhältnisse in der britischen Gentry vor etwa zweihundert Jahren ein bisschen weniger knapp waren, als es die Deiner Heldin Rahima im gegenwärtigen Afghanistan sind.

Von allen anderem ganz abgesehen. Doch all dieses Andere kannst nur Du zur Sprache bringen. Darauf freut sich

Deine Elke

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