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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Raha Mozaffari & Elke Schmitter > Äußere und innere Emanzipation - Brief 3

Äußere und innere Emanzipation – Brief 3

Elke Schmitter an Raha Mozaffari (Pseudonym),

Ingwer, Knoblauch, Physalis und Trauben © Elke Schmitter
© Elke Schmitter

 

Liebe Raha,

es gab einen Bericht des deutschen Fernsehens zu diesem furchtbaren Anschlag auf das Bildungszentrum Kadsch in Kabul, ich habe ihn nachlesen können. Und habe mich gefragt: Wäre es ein Trost, wenn es möglicherweise nicht hunderte Tote waren, sondern weniger als einhundert (wie es die Nachrichtenagentur meldete)? Es wäre weniger schlimm, in einem nüchternen, objektiven Sinne gesagt. Weniger Mütter, Väter, Schwestern, Großmütter, Brüder, Freundinnen mit einem Kummer, der nicht mehr verschwinden wird, der vielleicht nur manchmal in den Hintergrund gerät oder einem noch größeren Kummer den Vorrang gibt. Aber ob es für jeden einzelnen Trauernden einen Unterschied macht, ob er einer von vielen oder einer von sehr vielen ist? Es ist ja doch der eine Mensch, um den man trauert, selbst wenn man ihn nicht kannte. Wie Marziya, von der Du, wenn ich Dich richtig verstehe, nur weißt, dass sie einmal nach Paris reisen wollte, dass sie Elif Shafak bewunderte und gern mit ihr gesprochen hätte. Das sind nur zwei Details, aber eine ganze Welt von Gefühlen geht damit auf. Dabei weiß ich nicht, was Du selbst mit Paris verbindest und woran Marziya dachte bei diesem Wort, was sie vor sich sah. Das zartrosa Licht, das im Winter morgens und abends auf den mächtigen weißen Steinen liegt? Oder die Cafés mit ihrer Tradition des Diskutierens, Flirtens, mit dem Verschwimmen von Tag & Nacht? Die Heimat Simone de Beauvoirs oder – vorübergehend – Leïla Slimanis; die Stadt der Bouquinisten, der Mode, der Französischen Revolution? Für mich wird sie ewig die Stadt sein, in der ich als Studentin mit einem Freund und einer Freundin zehn Tage lang in einem blaugrauen (blau von Farbe, grau von Staub) VW-Käfer geschlafen habe, unter dem Eiffelturm, weil wir kein Geld für eine Unterkunft hatten, und in der wir jeden Morgen von freundlichen Flics geweckt wurden – was heute alles undenkbar ist. Auch in Paris sind die Flics inzwischen misstrauisch und hochgerüstet.

Ich konnte fahren; mit leisen Warnungen meiner Mutter ausgerüstet (woran ich nur noch eine pauschale Erinnerung habe), was junge Frauen und Sicherheit betrifft. Sie hat, um Deine Frage zu beantworten, nie an mich appelliert, die Heirat als Lebensziel zu betrachten, im Gegenteil. Trotzdem gibt es auch im Westen einen Unterschied zwischen der äußeren und der inneren Emanzipation, meiner Erfahrung nach. Das eine sind die Gesetze, die objektiven Möglichkeiten. Das Zweite: wie man sie nutzen kann, welche inneren Gebote, Ängste und Wünsche wirksam sind. Annie Ernaux, die im November den Nobelpreis in Stockholm entgegennimmt, hat in all ihren Büchern darüber geschrieben, über diesen lebenslangen diskreten und so mächtigen Prozess. Allein am Beispiel ihres eigenen Lebens.

Paris ist nicht die Heimat von Ernaux, war aber auch für sie ein Fixstern; wieder ein anderer und doch in manchen Bildern dem der ermordeten Marziya vielleicht ähnlich. Ich weiß nicht, ob Du Romane von ihr kennst, wie viel durchgedrungen ist zu Dir von der Preisvergabe an sie – in Deiner Verzweiflung und in einem Land, wo Mädchen, wenn sie sich bilden wollen, eine Zielscheibe für den bewaffneten Wahnsinn sind. Mädchen, wie Du eines warst. Mädchen, die wissen, dass sie mit Worten, die sie lesen oder schreiben, eine zweite Wirklichkeit erfahren oder auch erschaffen können; eine neue Wirklichkeit für sie selbst und für andere. Nicht nur in der Klasse, wo sie sich gegenseitig vorlesen, was sie geschrieben haben, sondern Städte und Länder weit entfernt. Und Jahre und Jahrhunderte weit entfernt.

Es ist ein absurder Trost und also gar kein Trost, aber vielleicht doch so etwas wie eine Haut, die sich um den Schrecken legen kann (dünn wie eine Walnusshaut, oder vielleicht doch so dick wie die Schale einer Feige), dass Mädchen, die lesen, und Frauen, die gebildet sind und schreiben, für den religiösen Wahnsinn derart gefährlich sind, dass man versucht, sie auszulöschen. Dass ein Mann im Auftrag anderer Männer sein Leben gibt, um sie zu töten. Um die Verletzten zu traumatisieren und vom Lesen und Schreiben für immer abzuhalten. Um Frauen wie Dich so zu erschrecken, in eine solche Trauer zu stürzen, dass sie gelähmt werden. Dass sie, wie Du von Dir schreibst, immer weniger lesen und schreiben.

Schreibst Du das auf, liebe Raha? Schreibst Du bitte auf, was Du fühlst und was Du denkst? Was Deine Mutter Dir erzählt hat und was Du Dir selber erzählst – was Du so lange nur Dir selber erzählst, bis es eines Tages gedruckt und gelesen wird? So wie dieser Brief von Dir.

All das ist wichtig. Es hat Bedeutung. So, wie es Bedeutung hat, dass Annie Ernaux von ihrer Abtreibung erzählt, von all der Angst und den physischen Qualen, die damit verbunden waren. In einem anderen Land, in einer anderen Zeit. In einem Frankreich, das sich von ihr erzählen lassen muss, was für ein Land es war. Weil es so blind war für den alltäglichen Schrecken junger Mädchen, so verhärtet und patriarchal, dass es Jahrzehnte brauchte, um seine Kinder davon zu befreien. Jahrzehnte voller Protest. Jahrzehnte voller Geschichten. Erzählter Geschichten, wie die Deiner Mutter, und geschriebener Geschichten wie Deinen. Geschichten von Einzelnen. Die von einer Marziya handeln und von einer Raha.

Ich hoffe, dass ich das eines Tages lesen kann!

Deine Freundin Elke

* Dieser Brief erschien zuerst in der Kolumne 10 nach 8 auf ZEIT Online.

 

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