Ich liebe die Herbstblätter nicht mehr – Brief 4
Freshta Ghani (Pseudonym) an Daniela Dröscher, 18. November 2021
Übersetzung: Dr. Lutz Rzehak
Liebe Daniela,
hier ist es kalt geworden. Der Herbst hat alle Blätter von den Bäumen gefegt. Ich denke, der Herbst geht mit Hoffnungslosigkeit einher. Dabei haben mir die gelben Blätter dieser Jahreszeit immer gefallen. Ich mochte diese Blätter, denn sie tanzen, obwohl sie wissen, dass es die letzten Tage ihres Lebens sind. Sie tanzen mit den Füßen einer jeden Person, die vorübergeht. Sie geben ihre Hoffnung nicht auf. Früher liebte ich es, auf Wegen zu gehen, auf denen viele trockene Blätter liegen. Sie ließen mich ihren schönen Klang hören und verabschiedeten sich von mir und meinen Schuhen und von den Bäumen mit einem Lächeln auf den Lippen. Heute sehe ich das anders.
Daniela! Hast Du das auch schon erlebt, dass Dir manche Dinge früher gefielen und Du sie irgendwann plötzlich hasst? Dass Du Dich ihnen entgegenstellst und sie vertreiben möchtest? So geht es mir. Ich liebe die Herbstblätter nicht mehr. Ich sehe nicht mehr, wie sie tanzen. Alles, was ich sehe, ist Hoffnungslosigkeit und das schmerzt mich sehr.
Kennst Du das, wenn man stürzt, wenn einem die ganze Identität genommen wird? Krieg und Armut hatten mich und meine Familie schwer getroffen, doch wir hatten wenigstens noch ein Land. Nie werde ich den Augenblick vergessen, als Terroristen unser Land einnahmen. Ich saß mit meinem Mann hier in unserem tadschikischen Exil vor dem Fernseher und wir hörten die Nachrichten aus Afghanistan. Auf einmal war alles anders. Sogar die Sendungen im Fernsehen hatten sich verändert. Wir erschraken, als ganz Afghanistan unter die Herrschaft der Taliban fiel. Es tut so weh, wenn du in einem fremden Land zusehen musst, wie dein eigenes Land ruiniert wird.
Mein Mann und ich, wir mussten beide weinen. Weder er noch ich wagten es, einander zu trösten. Das war ein sehr schwieriger Zustand. Mir wurde es schwarz vor Augen. Ich fühlte mich wie in Stücke gerissen. Früher dachte ich, dass ich nach Afghanistan zurückkehre, wenn mein Leben in Tadschikistan nichts wird. Aber nun habe ich jede Hoffnung verloren. Es gibt keinen Weg nach vorn und keinen zurück. Ich kann nicht auf ewig hier leben, denn dieses Land erkennt keine Flüchtlinge an. Auch in anderen Ländern wurden meine Aufnahmegesuche abgelehnt. Und nach Afghanistan kann ich jetzt gar nicht mehr zurück. Dieses Land habe ich verloren. Terroristen haben diesem Land ihr schwarzes Gesetz auferlegt.
Am Flughafen starb ein Mädchen in den Armen seines Vaters, andere Kinder gerieten unter die Füße der Menschenmengen. Frauen sind in ihren Häusern eingesperrt. Menschen, die ihre Heimat aus tiefstem Herzen lieben, mussten mitten in der Nacht fliehen. Musik wurde verboten. In unserer Stadt herrscht Stille. Ausländische Flugzeuge begannen mit übereilten Flügen. Einige Personen kletterten in die Flugzeuge und flogen davon. Andere hängten sich aus Angst vor Barbarei an die Tragflächen, damit diese sie vielleicht aus der Trauer wegtragen. Das Flugzeug startete und alle fielen zu Boden. Einige brachen sich die Hand, einige das Bein, andere das Genick. Viele starben. Drei Menschen klammerten sich an einen anderen, der am Flügel hing. Keiner ahnte, wie scharf der Wind hoch oben in der Luft bläst und wie schnell es keinen Sauerstoff mehr gibt. Immer noch schlugen Wellen der Hoffnung in ihren Herzen und sie glaubten, jetzt wären sie gerettet. Der tödliche Wind hat sie mit sich gerissen und auf den Boden geworfen. Er brachte sie auf eine Weise um, die sich keiner hatte vorstellen können. In den Häusern der Toten wurden Trauergäste bewirtet, aber die Weltöffentlichkeit hat die Toten verspottet. Man hat sie als Narren belächelt und ihre zerstückelten Leiber wurden als Idioten beschimpft.
Daniela! Glaub mir, sie waren keine Idioten. Wenn barbarische Terroristen dieses Land einnehmen, versucht man alles, um von dort zu fliehen. So ist die Lage in meinem Land. Mehrere Journalisten, die ich kenne, haben mich kontaktiert. Sie haben ihre Arbeit verloren und ihre Häuser wurden von den Taliban durchsucht. Sie hatten riesige Angst. Ihr Leben ist in Gefahr. Ich konnte ihretwegen nur noch weinen. Nach Tagen oder Wochen gelang es einigen von ihnen, das Land zu verlassen. Andere sind noch immer dort. Auch sie sind in ihren Häusern eingesperrt.
Was soll ich Dir zuerst schreiben? Was kann man schreiben, wenn man so traurig ist und keine Worte mehr findet, um seinen Schmerz auszudrücken? Du hast mir geschrieben, dass Du nach draußen oder in eine Ausstellung gehst, wenn Du nicht schreiben kannst. Wenn ich nicht schreiben konnte, war ich immer böse auf mich selbst. Ich ging nicht nach draußen und schaute auch nicht bei Facebook vorbei. Ich versank in meinen Gedanken. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass ich das, was ich auf dem Herzen habe, irgendwie zu Papier bringen muss.
In Deinem Brief hast Du Oriana Fallaci erwähnt, wie tapfer sie war und wie viele Menschen sie beeinflusst hat. Ich muss Dir gestehen, dass Du Oriana Fallaci besser kennst als ich, aber ich verspreche Dir, mir mehr Informationen über sie zu beschaffen. Vielen Dank, dass Du in Deinem Brief so viele gute Themen ansprichst.
Bei all den schmerzhaften Nachrichten, die mich erreichen, gibt es auch eine gute Nachricht: Ich bin schwanger. Mein Kind ist jetzt im siebten Monat und ich bin sehr glücklich, dass es ein Mädchen ist. Ich bin stolz, dass in meinem Körper das Herz eines Mädchens schlägt. Wenn wir Mütter unsere Töchter so erziehen, dass sie tapfer sind, sich vor nichts fürchten, dass sie Ziele haben, die nur ihre eigenen sind, dann werden unsere Töchter viel erreichen. Auf der Welt machen sich Liebe und Gerechtigkeit breit und die Grobheit, die im Namen der Herrschaft der Männer und der Väter existiert, wird wohl oder übel einmal verschwinden. Ich hoffe, meine Tochter so zu erziehen, dass sie zu einer Fackel für positive Veränderungen in der Welt wird, die ewig auf den Seiten der Geschichtsbücher leuchtet. Ich habe für sie den Namen Oriana ausgewählt. Was hältst Du davon?
Ich erinnere mich gerade, dass Du mich gefragt hast, was ich den Frauen im deutschen Außenministerium schreiben würde. Ich schreibe den Frauen, die im deutschen Außenministerium arbeiten: „Ich bin stolz auf Euch. Ihr habt für das, was Ihr heute seid, hart gekämpft. Das ist für alle Frauen auf der Welt ein Grund, stolz zu sein. Ihr habt das Glück, dass in Eurem Land Frieden herrscht und dass man sich um Fortschritt bemüht. Ich hoffe, dass Ihr uns nicht vergesst. Die afghanischen Frauen möchten auch so erfolgreich sein wie Ihr. Das geht aber nur, wenn man sie lässt.“
Schließlich muss ich noch erwähnen, dass die Schriftstücke, die ich damals vor meinen Eltern verheimlicht hatte, sehr vertraulich sind. Vielleicht bin ich irgendwann einmal mutig genug, jemandem davon zu erzählen oder sie sogar zu veröffentlichen. Ich habe sie nicht nur in meinem Gedächtnis bewahrt, sondern auch verschlüsselt auf meinem Computer. Deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich Dir hierüber nichts schreiben kann.
Bei uns gibt es eine Redewendung, die besagt: Berge können nicht zueinander kommen, aber Menschen können zueinander kommen. Vielleicht sehen ja auch wir uns irgendwann einmal und reißen die Mauern ab, die zwischen uns stehen. Ich glaube daran.
Liebe Daniela! Ich schreibe heute sehr viel. Erlaube mir, Dir zum Schluss dafür zu danken, dass Du mir diese Gelegenheit zum Schreiben gegeben hast. Dir diesen Brief zu schreiben, beruhigt mich, und ich habe viel von Dir gelernt.
Mit einem Lächeln
Freshta
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Untold – Weiter Schreiben Afghanistan, ist eine Initiative der KfW Stiftung in Kooperation mit „Untold – Write Afghanistan“ und Weiter Schreiben. Lesen Sie hier eine Erzählung von Freshta Ghani, erschienen am 25. Februar 2022