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Wie ein Zwilling – Brief 2

Fatema Key (Pseudonym) an Svenja Leiber, Balkh Provinz, Afghanistan, 16. Juli 2022

Übersetzung: Sarah Rauchfuß aus dem afghanischen Persisch

Brief 2 Fatema an Svenja
© privat

Liebe Svenja,

dass wir beide, zwei Menschen, die sich nicht kennen und einander nie zuvor begegnet sind, uns Briefe schreiben, ist für mich ebenfalls eine sehr interessante Erfahrung. Mich erinnert sie an die Geschichte von Judy Abbot, einem Charakter aus der Anime-Serie „Das Geheimnis von Daddy Langbein“,[1] die während meiner Kindheit sehr beliebt gewesen ist.

Du fragst, ob es mir gut geht. Ich antworte Dir, wie ich es seit dem Sturz meiner Regierung immer getan habe: Wenn „gut gehen“ bedeutet „am Leben sein“– ja, dann geht es mir gut. In wenigen Tagen jährt sich der Sturz der „Islamischen Republik Afghanistan“. Ich werde an diesem Tag die Nationalhymne und andere patriotische Lieder spielen und weinen. Als die Regierung vor einem Jahr fiel, konnte ich nicht weinen. Erst jetzt habe ich ein Bedürfnis und die Hoffnung, dass ich mich wieder etwas mehr in mich selbst zurückverwandle, wenn ich endlich weinen kann.

 

Liebe Svenja, es ist kein einfaches Thema. Die Republik Afghanistan und ich haben zwanzig Jahre unseres Lebens miteinander geteilt. Sie hat mein Leben begleitet wie ein Zwilling. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem ich im Fernsehen die Nachrichten von dem Einmarsch der Amerikaner gesehen habe. Ich war damals im Exil, als mein Land befreit wurde, ein Teenager, fast noch ein Kind. Von der Freiheit meines Landes zu hören, hat mir ein Gefühl von Stolz verliehen. Dabei ist Stolz ein Gefühl, das Menschen im Exil in Bezug auf ihr Heimatland für gewöhnlich nicht empfinden.

An dem Tag, an dem wir mit Tausenden anderen Familien in unser geliebtes Land zurückkehrten und den Boden dort küssten, fühlte ich mich, als wäre ich ein zweites Mal geboren worden. Die ersten Tage nach der Einreise waren hart. Wir hatten keinen Zugang zu Trinkwasser und keinen Strom. Die nächste Schule und das nächste Krankenhaus waren kilometerweit von uns entfernt und da es keinerlei Verkehrsmittel gab, mussten wir alle Wege zu Fuß laufen. Aber es gab Liebe, und wichtiger noch als Liebe: Hoffnung.

Die ersten zehn Jahre in der Republik Afghanistan waren schwer für mich. Da auch meine Familie der traditionellen Kultur Afghanistans unterworfen war, musste ich die Schule abbrechen. Erst in meinen Zwanzigern konnte ich wieder eine Schule besuchen und trotz enormer Schwierigkeiten sogar arbeiten. Ich hatte gerade begonnen, Pläne für meine Zukunft zu schmieden, und mir überlegt, in welchem Land ich mein weiterführendes Studium aufnehmen könnte, als …

An dem Tag im August, an dem die Regierung fiel und ich die Bilder Tausender meiner Landsleute sah, die in die Berge an der Grenze zum Iran flohen, sind mein Stolz und meine Hoffnungen in sich zusammengefallen.

 

Ob ich denn nicht bald heiraten möchte, wurde ich vor ein paar Tagen in einer Runde von meinen Freundinnen gefragt. Ich hätte weinen können. Vor dem Fall der Regierung habe ich keinen einzigen Gedanken ans Heiraten verschwendet. Mein Studium hatte für mich bisher immer oberste Priorität. Aber jetzt, da alles so unerreichbar für mich geworden ist, ist eine Heirat vielleicht die einzige Option, die ich noch habe.

In den Jahren, in denen man mir meine Ausbildung verweigerte, träumte ich fast jede Nacht, ich sei in der Schule. Jetzt bin ich mir sicher: Wenn man mich dazu zwingt, zu heiraten und eine Familie zu gründen, werde ich jede Nacht davon träumen, mein Studium in einem anderen Land fortzusetzen oder dort an einer anerkannten Institution zu arbeiten.

Bevor die Regierung Afghanistans fiel, habe ich jedes Mal, wenn ich einen Konvoi von Militärfahrzeugen sah, für das Leben der Soldaten gebetet. Ich habe gebetet, sie mögen gesund aufbrechen und gesund zurückkehren, und ich war stolz. Wenn ich jetzt diese Fahrzeuge sehe, die von Taliban gelenkt werden, kommen mir als Erstes all die Soldaten in den Sinn, die im Kampf gegen die Taliban getötet wurden.

Du glaubst es mir vielleicht nicht, aber in den letzten Tagen vor dem Sturz Afghanistans haben sie in unserem Bezirk beinahe täglich einen dieser Märtyrer begraben und der Friedhof bei uns war fast vollständig mit Landesfahnen übersät, die sie auf die Gräber gefallener Soldaten stecken.

Mir geht es nicht gut. Ich bin sehr wütend. Auf mich und auf alle. Auf meine Landsmänner und -frauen, die die Regierungsgeschäfte stillschweigend anderen überließen, auf die Soldaten, die aufgegeben und auf die hochrangigen Staatsmänner, die unser Land verkauft haben und sich in Interviews jetzt fortwährend so inszenieren, als trügen sie keine Schuld. Selbst die Professoren meiner Universität waren an diesem Verrat beteiligt. Während meiner Studienzeit habe ich vor Aschraf Ghani gewarnt, ihn in den Seminaren einen untauglichen Präsidenten genannt, aber meine Professoren haben immer bloß auf seine hohe Bildung und die langjährige Erfahrung als Politiker und die Kompetenzen seiner Berater verwiesen. Mich behandelten sie, als verstünde ich nichts von Politik und läge mit meinen Analysen falsch. Jetzt haben sowohl die Staatsmänner als auch meine Professoren das Land verlassen.

Mir geht es nicht gut. Ich schäme mich und habe das Gefühl, vor mir selbst nicht bestanden zu haben. Ich habe zwei Monate vor dem Sturz der Regierung meinen Abschluss als Politikwissenschaftlerin gemacht, aber trotz meiner Expertise konnte ich nichts für mein Land tun.

Du hast mir von dem Tag erzählt, an dem Du das erste Mal etwas von Afghanistan erfahren hast. Kannst Du glauben, dass ich, als wir nach Afghanistan zurückkehrten und gemeinsam mit einem Mann unterwegs waren, der Paschto sprach, nicht geglaubt habe, dass er ebenfalls Afghane ist? Niemand hatte mir irgendetwas über mein Land und seine Bewohner erzählt. Jetzt sorge ich mich um die jungen Menschen von heute und morgen, die Umherziehende, Emigranten, Flüchtlinge sein werden. Werden sie in eine Identitätskrise stürzen, genau wie ich? Meine Krise linderte sich mit der Rückkehr nach Afghanistan, aber was ist mit ihnen?

Du hast mir von Deinem Leben in arabischen Ländern geschrieben. Sprichst Du etwa auch Arabisch? Ich wollte Arabisch lernen, um nach Beendigung meines Studiums als Nahostexpertin zu arbeiten, und habe zum Unabhängigkeitsreferendum in Irakisch-Kurdistan geforscht. Jetzt bin ich ausschließlich mit dem chaotischen Zustand meines eigenen Landes beschäftigt. Im Gegensatz zu meinen Studienzeiten, in denen ich mich voller Energie meinen Recherchen und Artikeln gewidmet habe, bin ich jetzt kaum in der Lage zu schreiben. Ich fühle mich wie paralysiert, aber ich muss es versuchen, ich muss wieder zum Stift greifen und schreiben.

Du hast mich nach der Ukraine gefragt. Ja, Entscheidungen von Welt- und Regionalmächten haben beide Länder, Afghanistan und die Ukraine, zu Leidtragenden gemacht, aber ich kann nur für mein Land und meine Leute sprechen: Jedes Mal, wenn wir hätten aufschreien müssen, haben wir geschwiegen und die Diskriminierung aufgrund von Stammeszugehörigkeit, Sprache oder Religion grassiert unter meinen Leuten. Wir alle haben damit gerechnet, dass es in Afghanistan zu einem Krieg kommen wird, um die Armee und die Regierung zu stürzen, aber wir hätten niemals damit gerechnet, dass Russland die Ukraine überfällt. Wir haben Russland für zivilisiert gehalten und jetzt stellt sich das Gegenteil heraus. Ich kann mich in den Schmerz der Ukrainer hineinversetzen, ich fühle mit ihnen. Ich habe das Schluchzen einer Großmutter gehört, die tränenüberströmt zusieht, wie ihre Enkelkinder in Richtung Grenze gehen, und das Weinen von Kindern, wenn ihr Vater sie der Mutter übergibt, um in der Stadt zurückzuzubleiben. Die Ängste der Menschen in der Ukraine bei dem Geräusch von Kampfflugzeugen habe ich selbst durchlebt. Der Krieg in der Ukraine hat in mir unwillkürlich die Ereignisse in Bosnien-Herzegowina wachgerufen. Vor allem ein Bild habe ich beständig vor Augen: Ein Vater, der seine Hände auf die Scheibe eines Busses gelegt hat, um sich von seiner Frau und seinem Kind zu verabschieden. Wie oft wiederholt sich dieses Bild jetzt wohl gerade in der Ukraine?

Der Krieg trägt überall dasselbe Gewand, ganz egal, ob er im Jemen, in Syrien oder in der Ukraine wütet. Er hat dasselbe Gesicht, ein grimmiges Gesicht, das von herzzerreißenden Schreien begleitet wird und verzweifelten Klagelauten. Aus Solidarität und Mitgefühl mit den Menschen in der Ukraine möchte ich, dass man mich in diesen Tagen Oksana nennt.

Ob bewusst oder nicht, in meinen Erzählungen, die nicht nur in der afghanischen Gesellschaft, sondern überall spielen, sind die Hauptcharaktere stets Frauen. Ich war immer bestrebt, über gesellschaftliche Konflikte zu schreiben, aber jetzt, wo ich mein Land in diesem Zustand sehe, geht das nicht mehr unbefangen. Wo würde ich meine Geschichten denn noch vorlesen können? Wer würde meine Erzählungen jetzt drucken? Der gegenwärtige Zustand hat meine Autorinnenseele sehr geschwächt. Aber keine Sorge: Ich bin ein hartnäckiger Mensch. Ich bin in meinem Leben schon mehrmals gefallen und wieder aufgestanden und jedes Mal ist mein Stand ein wenig fester geworden.

Liebe Svenja, danke, dass Du mir schreibst und meine fragmentierten Texte liest! Dich als Wegbegleiterin zu haben, ist, als könnte ich eine Therapeutin aufsuchen. In meiner Gesellschaft, in der für viele Menschen der Besuch bei einem Psychologen außerhalb ihrer Reichweite liegt, kann schon die Möglichkeit, jemandem seinen Schmerz anzuvertrauen, eine Weise sein, Krankheiten der Psyche und der Seele zu lindern, und so ist unser Briefwechsel für mich nicht weniger heilsam als ein psychotherapeutisches Gespräch.

 

Ich danke Dir.

Fatema

 

[1] Die Serie handelt von Judy Abbot, einem Mädchen, das als Waisenkind aufwächst. Durch einen unbekannten Wohltäter erhält sie ein Stipendium für eine renommierte Privatschule in New York. Die einzige Bedingung, die der Unbekannte an Judy stellt, ist, dass sie ihm regelmäßig Briefe schreibt. (Anmerkung der Übersetzerin)

 

Untold – Weiter Schreiben Afghanistan, ist eine Initiative der KfW Stiftung in Kooperation mit „Untold – Write Afghanistan“ und Weiter Schreiben.
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Wie ein Zwilling – Brief 2

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