Menu
Suche
Weiter Schreiben ist ein Projekt
von WIR MACHEN DAS

> Einfache Sprache
Logo Weiter Schreiben
Menu
Untold Narratives – Weiter Schreiben > Fatema Key & Svenja Leiber > Ein Ort außerhalb unserer selbst - Brief 3

Ein Ort außerhalb unserer selbst – Brief 3

Svenja Leiber an Fatema Key (Pseudonym), Berlin, 31. August 2022

Übersetzung: Ali Abdollahi ins Persisch

 

„Ich schicke Dir ein Bild, Sozialismus in Röcken oder auch die Frage, wie soll es eigentlich weitergehen?“ © Ulf Aminde, Wendepunkt 2021, Collage nach dem Wandbild von Arno Mohr: Wendepunkt Deutschlands (Bodenreform)

 

Liebe Fatema,

am Abend, bevor ich Deinen Brief erhielt, sah ich den Film „Ein Brief aus Kabul“ von Shahid Saless, dem großen iranstämmigen Filmemacher: Ein Kind schreibt einen Brief, scheinbar an alle, und berichtet aus dem Erdkundeunterricht, in dem Afghanistan nach der April-Revolution 1978 wie in einem Dokumentarfilm vorgeführt wird. Zunächst wirkt der Film wie sowjetisches Propagandamaterial, man betrachtet gleichsam einen Film im Film. Die Sprecherstimme wechselt von einer Kinderstimme zu der eines Mannes und wieder zurück, als spräche mal ein Schüler, mal ein Lehrer oder der herangewachsene Junge. Es wird vom harten Klima, vom florierenden Wohnungsbau und von lebhaften Märkten berichtet, dann aber zunehmend vom Terror, von den Kindern gefallener Märtyrer, die das Land gegen die „Konterrevolutionäre“, die von den USA unterstützten Mudschahedin, verteidigt hatten. Schließlich sehen wir nur noch Waisenkinder und erfahren ganz zum Schluss, dass auch der Erzähler eine Waise ist. Der Film endet abrupt, indem sich das Kind, das wir bisher nur von hinten, schreibend an einem Tisch, gesehen hatten, plötzlich umdreht, und den Betrachter:innen ein unendlich trauriges und uraltes Gesicht zeigt.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, am folgenden Tag einen aktuellen, „echten“ Brief aus Afghanistan zu erhalten, der ausgerechnet mit dem Einmarsch der Amerikaner einsetzt und die Situation 2001 aus der Nahsicht schildert, jene Zäsur also, die die seit 1978 währenden Krisen vorübergehend unterbrechen sollte. Der Brief erschien mir in dem Moment wie ein Echo auf den Film und Deine Worte, dass Dein Wohlergehen allenfalls ein „Noch-am-Leben-Sein“ sei, hatten eine ähnliche Wirkung auf mich wie das Gesicht des Kindes.

Deine Perspektive zu lesen, ist schmerzhaft und aufschlussreich, denn aus „westlichem“ Blickwinkel (falls ich den so vereinfacht zusammenfassen darf) war die Argumentation 2001 keineswegs nur Eure Befreiung, sondern vielmehr Selbstverteidigung. So jedenfalls wurde der Einmarsch der USA in Afghanistan völkerrechtlich legitimiert. Ich erinnere mich noch gut an die vielen Diskussionen, die wir damals auch in Berlin führten. Es gab glühende Verteidiger:innen und wütende Ablehner:innen eines deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan, denn nicht alle glaubten an die Devise, ‚unsere Freiheit werde am Hindukusch verteidigt‘, wie sie hier in der Öffentlichkeit lanciert wurde. Vielen erschien diese Vorstellung eher absurd und ein bewaffneter deutscher Einsatz schwer mit dem Bedürfnis nach Abrüstung und Pazifismus vereinbar. (Vielleicht hätte man schon damals deutlicher von der Freiheit im Allgemeinen sprechen müssen, die es auch heute, und zur Not mit unmissverständlichen Mitteln, zu verteidigen gilt).

Beim Lesen Deines Briefes wurde mir auf fast peinliche Weise klar, wie sehr ich in meinem ersten Brief an Dich von der hiesigen Perspektive ausgegangen war und wie wenig ich bedacht hatte, dass Du diese Perspektive nicht teilst.

Für mich machen diese unterschiedlichen Sichtweisen unseren Briefaustausch wichtig: So schreibst Du von dem „Fall Deiner Regierung“ vor einem Jahr, während ich mit dem Bild lebe, der Westen habe das noch instabile Projekt in Afghanistan vor allem „fallen gelassen“ und insbesondere wir hätten die Frauen und Mädchen auf furchtbare Weise verraten, sie sehenden Auges im Stich gelassen; für mich ein unverzeihlicher Akt.

Über diese unterschiedlichen Blickwinkel denke ich viel nach, wobei Deiner mehr Gewicht hat, selbstverständlich, denn Du bist vor Ort, es ist Dein Land. Ich lese lediglich von Weitem mit und mache mir Gedanken. Ich versuche dabei, in keinem Moment Deine Situation zu vergessen: eine Frau mit abgeschlossenem Studium in einem von Taliban beherrschten Land – und sie gleichzeitig doch ganz zu vergessen, um überhaupt die Ebene zu finden, auf der sich kommunizieren lässt. Und so unmöglich wie dieses gleichzeitige Nichtvergessen und Vergessen scheint, so unmöglich, ja beinahe anmaßend, bleibt für mich im Grunde der Versuch, einen Brief aus dem Frieden in die Krise hineinzuschreiben, einen Wortwechsel, aufgespannt zwischen eigener und allgemeiner Geschichte, die in jedem Moment über uns beiden schwebt und gänzlich unterschiedliche Bedingungen erzeugt. Fast habe ich das Gefühl, es bliebe uns nur eine geringe Möglichkeit, einige Fragmente der Gegenwart (vor allem Deiner) zu bergen, Worte, Sätze und Bilder von Dir einzusammeln, die sich als Kreation jener Antikreation der Gewalt entgegenstemmen und der in allem verletzten Empfindung der (von Gewalt) Betroffenen, oder Dir, einen Aufenthalt bieten.

Ich stimme Dir vollkommen zu, dass das Erzählen manchmal gesund erhalten kann, dass es verhindern kann, dass wir den Verstand verlieren, genau, wie Du es am Ende Deines Briefes beschreibst. Das lässt sich kaum deutlich genug unterstreichen: der Schrecken, die Trauer, die Wut, das Trauma, die sich in Sprache fassen lassen, finden einen Ort außerhalb unser. Das scheint auch mir elementar. Es ist auch für mich einer der Gründe zu schreiben. Und ich stimme Dir vollumfänglich zu: In diesem Sinne ersetzt das Schreiben vielleicht manche Analyse oder hat dieselbe Funktion und hatte sie wohl auch schon immer (es wäre interessant, die Literaturen der Welt einmal aus dieser Perspektive zu betrachten …).

Liebe Fatema, so bitter es ist, was Du schreibst, so ermutigend sind für mich beim Lesen doch zwei Dinge: erstens, dass Du Deine Ausbildung noch beenden konntest und sie Dir keiner mehr nehmen kann, und zweitens, dass Du, neben aller Traurigkeit, doch auch eine mutige Wut zu haben scheinst und äußerst, dass Du ein hartnäckiger Mensch bist. Und es beeindruckt und berührt mich, wie Du daneben von den jüngeren Menschen in Deinem Land sprichst: mit Empathie. Und mit Sorge.

Ich teile diese Sorge in Bezug auf die Jüngeren in jedem Moment. Und es gibt in meinen Augen nichts Verachtenswerteres als den ewig sich wiederholenden Angriff auf die Kindheiten und somit auf die Zukunft.

Als junge Erwachsene habe ich über einige Jahre an einem Projekt für Waisenkinder in Russland mitgearbeitet. Die Kinder, die in das neu gegründete Dorf kamen, sahen anfänglich genauso aus wie die afghanischen Waisen in Saless‘ Film, mit geschorenen Köpfen und uralten Augen. Das Schlimme war, dass sie zum Teil bereits zu sehr misshandelt worden waren, sie waren wie zerbrochen. Alle Kriege, die Du aufzählst, im Jemen, in Syrien, in der Ukraine, in Afghanistan fressen Kindheiten auf, und das oft schon, bevor je eine Geschichte gehört oder selbst erzählt werden konnte.

Die Kinder aus dem Dorf in Russland sind längst erwachsen und haben selbst Kinder bekommen, die ebenfalls bereits Jugendliche oder junge Erwachsene sind. Einige dieser Jugendlichen leben seit kurzer Zeit in Deutschland, um nicht für den Angriffskrieg gegen die Ukraine rekrutiert zu werden. Andere sind in die Ukraine gegangen, um dort zu helfen. Diese Impulse und Bewegungen machen mir immerhin Mut: Die Zukunft ist vital, die Jugend lässt sich den Hass und die Dummheit der Erwachsenen nicht ohne Weiteres aufzwingen.

Deine Sätze, liebe Fatema, vermitteln Ähnliches. Sie strahlen Kraft und Widerständigkeit aus, während Du gleichzeitig von einem Leben und einer Vergangenheit berichtest, wie ich sie nicht ansatzweise je erlebt habe. Das lässt mich sehr demütig werden vor der Tatsache, dass Menschen im Großen und Ganzen doch stärker zu sein scheinen, als ich es oft annehme.

In diesem Sinne hoffe ich auf Deinen nächsten Brief und dass er Dir vorübergehend eine Möglichkeit sei, Dich nach Deinem Bedürfnis zu äußern; und denen, die Deinen Brief lesen, ein Angebot, etwas über das derzeitige Leben einer Frau in Afghanistan zu erfahren.

 

Sei wärmstens gegrüßt

Svenja

 

PS: Ich schicke Dir ein Bild,  Sozialismus in Röcken oder auch die Frage, wie soll es eigentlich weitergehen. Ist eine kleine Arbeit von meinem Mann und passt für mich sehr zu Saless …

Die Sichtung der Arbeit von S. Saless fand im Rahmen eines größeren Projektes des Goethe-Instituts zum Aufbau eines Shahid Saless Archives statt. Projektleitung: Vivien Buchhorn, www.shahid-saless-archive.org

Autor*innen

Datenschutzerklärung

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner