An Ciham
Unglückseliges Kind, Trägerin eines reinen Herzens,
ist’s denn schon ein Jahr, seit Übles dich ereilte?
Beginnen deine Tage von Zeit zu Zeit mit Tränen?
Was sagst, was magst du wohl denken?
Fehlt dir der Absender an meiner Botschaft?
Nicht einer deiner Lieben, nicht ein Mensch, der dir nahesteht,
sondern eine Mitleidende bin ich, eine, die da ist, wo du auch bist.
Mögen meine Grüße dich erreichen, da ich dir sonst nichts schicken kann.
Erzähle mir, wie es dir geht, wie es um dich steht?
Was sahen deine Augen seit deiner Entführung?
Bestürzt dich das Leben in der Dunkelheit,
in der alles gleich scheint ob bei offenen oder geschlossenen Augen,
in der der einzige Unterschied zum Tod die Hoffnung ist?
So sage mir, fragst du dich, worin deine Schuld liegt?
An deinen Händen haftet keine!
Und doch büßt du für die Schuld anderer.
In einer Zeit, in der du hättest lernen, ja spielen sollen,
warf das Böse sein Auge auf dich.
Nicht an dir, an deinem Vater
will ich meine Verletzungen gerächt,
will ich vergolten sehen, was man mit mir macht.
Nichts hast du verschuldet,
drum höhne und spotte ich nicht.
Bleibe es dir fern, die Tochter deines Vaters zu sein,
sei es dir nah, die Tochter Gottes zu sein, auf dass er dir hilft.
Junges Mädchen, einer Blume gleich,
wie traurig macht es mich, dass du den Schuldigen zur Geisel wurdest.
Ciham Ali Abdu ist die Tochter des ehemaligen Informationsministers Eritreas, Ali Abdu. Nach der Flucht ihres Vaters, der die rechte Hand des diktatorisch herrschenden Staatspräsidenten Isayas Afwerki war, wurde Ciham, die die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, 2012 beim Versuch, die Grenze zum Sudan zu überqueren, festgenommen. Bis heute sitzt sie ohne Anklage oder faires Verfahren im Gefängnis. Niemand hat Informationen über ihren Verbleib.
Dieses Gedicht schrieb die Autorin 2013 für Ciham, als sie selbst im Gefängnis saß.