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Europa Weiter Schreiben - Briefe > Zia Qasemi & Ali Abdollahi > Die Heimaten, die ich habe - Brief 2

Die Heimaten, die ich habe – Brief 2

Ali Abdollahi an Zia Qasemi, 09. Oktober 2022

Übersetzung: Sarah Rauchfuß aus dem Persisch

„Das Foto wurde vor 25 Jahren aufgenommen. Ich befand mich damals im Dorf Mashhad Ardehal nahe der Stadt Kashan am Grab von Sohrab Sepehri, einem großen verstorbenen zeitgenössischen Dichter. Neben mir standen einige Schüler aus der Schule des Dorfes. Ich habe spontan ein Gedicht für sie vorgelesen, was sie begeistert aufnahmen. Als wir uns wieder verabschiedeten, lachen wir – wie man auf dem Foto sehen kann.“, Ali Abdollahi © privat

 

Lieber Zia, mein werter Freund,
hallo!

Ich habe Deinen herzlichen und unvermeidlich traurigen Brief gelesen. Würde ich Dir nun in der altmodischen Manier des Briefeschreibens antworten: „Meine Wenigkeit befindet sich wohl und es gibt keinerlei Betrübnis außer der Entfernung, mein sehr verehrter Herr …“, so wüsstest Du gleich, dass ich nicht ehrlich bin, denn wo ist das Gute in diesen Tagen!

In jeder einzelnen Zeile Deines Briefs fühle ich mit Dir und sehe selbst in den Passagen, die von Deinen kränkenden Erfahrungen im Iran handeln, eine Spur meines Selbst, meines iranischen Selbst, und wenn ich aufrichtig bin – und das muss ich sein – dann bin ich beschämt angesichts dessen, was einige von uns Dir zugemutet haben. Nichts davon will ich rechtfertigen. Ich vermute jedoch, dass hinter diesem instinktiven, achtlosen Verhalten kein systematischer Vorsatz, kein organisiertes Vorgehen seitens der Peiniger steckte, so dass es in dieselben Kategorien eingeordnet gehört, wie, sagen wir, der europäische Rechtsradikalismus oder Chauvinismus – Du weißt ja, dass diese Begriffe ihre eigenen Definitionen und Hintergründe haben. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der iranischen Außenseiter selbst so behandelt werden. Diese Umgangsweisen lassen sich allesamt auf eine verfehlte Bildung und eine unzureichende Erklärung zeitgenössischer Konzepte zurückführen – auf ein mangelndes Verständnis von Konzepten wie „eigen“ und „fremd“, das in unserer Region vorherrscht. Kurz gesagt: Dieses Verhalten hat vor allem mit Unwissenheit zu tun und im gesamten Nahen Osten – dieser Werkstatt der Religionen und dysfunktionalen modernen Institutionen – öffnen und schließen sich die Türen fortwährend über dieser Schwelle.

Du weißt auch, dass die Mehrheit der freien Iraner ebenfalls Fremde in ihrem Heimatland sind und dass es den Herrschenden gelegen kommt, „äußere Faktoren“ wie „die Afghanen“ als Rechtfertigung ihres eigenen Versagens zu beschreien, obwohl Deine Landsleute doch einen so unbestreitbaren Anteil am Aufbau des Iran hatten und es in der Geschichte wohl keine zwei anderen Länder gibt, die mehr Gemeinsamkeiten, mehr Trauer und mehr Freude geteilt haben als Iran und Afghanistan. Meinem chorasanischen Ich, dem schon geografisch Herat und Kabul näher sind als Teheran, seid Ihr, Du und Deine Landsleute, keine Fremden. Wir teilen eine Sprache und ein Schicksal und der Weg unserer Befreiung führt über denselben Bergpass.

Bevor ich Deinen Brief erhalten habe, las ich Deinen brillanten Roman „Als Moses getötet wurde“, der mir trotz seiner bitteren Themen das Herz erwärmte – so sehr, dass ich umgehend darüber schreiben wollte. Aber was sich in diesen Monaten und jüngst im Iran und in Afghanistan ereignet, geschieht wie im Schnelldurchlauf – so rasant, dass ich die Ereignisse nicht übergehen kann, obgleich ich ratlos bin, über welches ich schreiben soll. Bevor es mir gelingt, mir eines der Ereignisse „anzueignen“ und darüber zu schreiben, folgen dicht hintereinander bereits neue. und ich bin es, den sie sich aneignen, sie verpassen mir einen Schlag ins Gesicht und machen mich schwindelig. Diese Ereignisse scheinen neu, aber sie treten aus uralten, unverheilten Wunden. Das ist das grundsätzliche Wesen der Geschehnisse im Nahen Osten: Sie wurzeln in den Tiefen der Geschichte, entfacht oder weiter angeheizt durch koloniale Verhältnisse und durch die Großmächte der jeweiligen Zeit.

Lass es mich etwas persönlicher sagen: Als im Iran die Islamische Revolution stattfand, war ich zehn Jahre alt, lebte in einem Dorf und hatte nur ein vages Verständnis von dem Ereignis, das später mein ganzes Leben verändern sollte. Etwa zwei Jahre später, es war zur Mittagszeit, erreichte meine zwei Kinderohren die Nachricht von der Besetzung Afghanistans durch die sowjetische Armee. Ich habe die Zeit noch im Gedächtnis und den Klang dieser Nachricht noch im Ohr; aufgrund der Nähe zur afghanischen Grenze hörten wir bei uns zu Hause, wo es keinen Strom und keinen Fernseher gab, auf unseren Batterieempfängern iranisches, afghanisches und manchmal sogar tadschikisches Radio und verliebten uns in die Lieder von Ahmad Zaher, Naim und anderen. Und da mein Vater in seinen jüngeren Jahren Kleinbauer und saisonal als fliegender Händler unterwegs gewesen war, gab es unter seinen Freunden viele Afghanen, Belutschen und Sistaner, die bei uns ein und aus gingen., und so sind mir das afghanische Persisch und sogar das Belutschi ganz und gar nicht fremd.

Wenn ich die Vergangenheit betrachte, gelange ich zu der Überzeugung, dass im Gedächtnis aller iranischen und afghanischen Menschen – neben vielen individuellen Erlebnissen – fortwährend diese beiden Ereignisse präsent sein müssen, die das Leben in unseren beiden Ländern so veränderten. Im Iran fasste der schiitische Fundamentalismus Fuß und breitete sich in der Region aus, auf der anderen Seite lockte die sowjetische Besatzung eine Menge Salafisten und wohlstandsverwahrloste revolutionäre Islamisten wie Bin Laden aus den arabisch-islamischen Ölstaaten nach Afghanistan. Von den Kommandanten des Kapitals angestachelt, kamen sie unter dem Vorwand, den Kommunismus zu bekämpfen. Diese Monster sind bis heute – da wir beide bereits die Lebensmitte erreicht haben – dieselben geblieben und die blutigen Resultate sind das Islamische Emirat der Taliban und unsere religiösen Extremisten, die den Menschen kein Quäntchen Freude gönnen.

Zwei Jahre nach der Revolution brach, zeitgleich mit der Besetzung Deines Landes, ein Krieg über die Menschen im Iran herein, der für dieses Land zum langwierigsten Krieg des 20. Jahrhundert werden sollte: der achtjährige Iran-Irak-Krieg. Ich war zwölf Jahre alt und hörte die Nachrichten vom Krieg am Rande meiner Kinderspiele. Niemals hätte ich gedacht, dass der Krieg so lange dauern und der Gesang seiner Sirenen in meine Ohren dringen und mir derart den Kopf verdrehen würde, dass er mich letztlich in Form eines „Kindersoldaten“ (ein Ausdruck, dessen Bedeutung ich erst später verstand) verschlingen und nur rein zufällig wieder erbrechen sollte – glücklicherweise. Im zweiten Gymnasialjahr blieb ich, damals sechzehn Jahre alt, dem Unterricht fern. An einem der letzten Tage des Monats Esfand[1] trat ich mit einer Gruppe von Klassenkameraden, verzaubert von Sadegh Ahangarans Liedern, in das Kriegsspiel ein – ohne meiner Familie Bescheid zu geben oder mich zu verabschieden. Zwei meiner Freunde wurden zu „Märtyrern“, ich kehrte nur zufällig wieder zurück, älter und reifer als die Anzahl der Kalenderjahre, die hinter mir lagen. Ein Kind von sechzehn Jahren, was versteht es denn schon von Begriffen wie „der Feind“, von „Krieg“ und von „heiliger Verteidigung“ und auf welche Erfahrungen soll es zurückgreifen?

Die letzten zwei Glocken auf einem Kelimchen, die mir als einzige Erinnerung aus der Kindheit geblieben sind. Damals, etwa vor 25 Jahren, hatten wir viele Ziegen und Schafe. Bei den dreimonatigen Sommerferien half ich der Familie und den Hirten beim Weiden im Acker und Gebirgen oder Melken im Stall…..© Mahya Taheri.

Ich gestehe, Dein Brief hat mich veranlasst, meine Kriegserfahrungen und die Wahnideen meiner Kindheit im Schnelldurchlauf Revue passieren zu lassen, so rasant und so tiefschürfend, dass ich nicht in der Lage war, zu bremsen. So wurde ich in die Geschichte unserer Länder und auch unserer Region hineingeworfen, mit folgender schmerzhafter Erkenntnis: Wir saßen jahrhundertelang im Klassenzimmer der Traurigkeit, unser Lehrer war der Kummer und Freude war für uns nicht mehr als das Klingeln zu den kurzen Pausen zwischen zwei Unterrichtsstunden oder die Ferien zwischen zwei Schuljahren. Jetzt entferne Traurigkeit und Freude aus diesen Sätzen und setze Tyrannei und Freiheit an ihre Stelle, das Ergebnis ist dasselbe, so als hielten sich diese vier Wörter gegenseitig am Leben. Und so konnten wir über vier Jahrzehnte hinweg nie aus vollem Herzen lachen und haben nicht einmal eine einzige Phase der Freude und Freiheit erlebt. Noch einmal: Ich bin der Ansicht, dass diese historische Traurigkeit uralte Wurzeln hat, ja, dass sogar im Hintergrund jener prachtvollen persischen Literatur – die unser gemeinsames Erbe ist – trotz ihrer Anbetung des Schönen, der Verehrung der Frau, der Darstellung von Weingenuss, Liebschaften und spiritueller Toleranz, eine tiefe Traurigkeit schwebt. Und manchmal materialisiert sich diese Traurigkeit, lagert sich ab, wie Weinstein am Boden eines Tonkrugs.

Lieber Zia, meine gegenwärtige Verfassung ist ganz eingenommen von dieser historischen Traurigkeit und vom Schnelldurchlauf der Ereignisse, davon, dass Hazara-Mädchen während des Unterrichts in Kabul grausam getötet, Belutschen in Zahedan erbarmungslos von hinten erschlagen werden und in Kurdistan und Teheran heißes Blei die Stirnen und Herzen hellsichtiger schöner Frauen und Mädchen küsst, die gerade so alt sind, wie ich es war, als ich in den Krieg zog. Fordern sie denn etwas anderes als ein schlichtes, gewöhnliches Leben in Freiheit und geistiger Weite? Wieso sprechen dann nur Gewehrläufe, Handschellen und Gefängniszellen zu ihnen?

Ich bin sehr traurig und zugleich habe ich widersprüchliche Gefühle, bin ich ebenso von Furcht wie von Hoffnung erfüllt. Furcht vor der Kontinuität dieses blutigen Kreislaufs von Gewalt und uralter Despotie und Hoffnung auf das Anbrechen heller Tage, insbesondere jetzt, da in unseren Ländern couragierte Frauen mit wenig Unterschieden in ihren Forderungen und ihrer Sprache das Feld betreten, aufrecht und ohne zu stottern, und die gesellschaftlichen Veränderungen als Anführerinnen in die Hand genommen haben. Das ist berauschend und schenkt Hoffnung, denn nur freie Frauen können freie Männer und freie Regierende hervorbringen – die fortdauernden Probleme unserer Länder waren schließlich seit alters her archaische Tyrannei, Religiosität und die Isolation der Hälfte der Bevölkerung. Manchmal bezwingt meine Hoffnung die Angst, dann wieder bin ich entmutigt und ängstlich angesichts der Schwierigkeiten, die diesem Prozess inhärent sind.

Du hast in Deinem Brief allegorisch vom Fremdsein und von den Erinnerungen an Deine Großmutter geschrieben. Bei mir setzte das Gefühl des Fremdseins erstmals ein, als ich für den Besuch des Gymnasiums das Dorf verließ und in die Kleinstadt kam. Dann wieder, als ich am Ende meines zweiten Lebensjahrzehnts mit meinem Provinzdialekt in die Großstadt Teheran umsiedelte, und dann, als ich in meinem fünften Lebensjahrzehnt mit gebrochenem Deutsch und starkem Akzent in mein geliebtes Berlin „geworfen“ wurde. Ich schreibe „geworfen“ und spiele damit auf die Bedeutung der Heidegger‘schen Begriffe „In-der-Welt-Sein“ und „Geworfen-Sein“ an. So gesehen bin ich eigentlich in zwei oder drei Heimaten geworfen worden: in die Heimat des Dorfes meiner Kindheit, die sich in einer anderen Umlaufbahn bewegte als meine zweite, darauffolgende Heimat Teheran, und dann in meine dritte Heimat, Deutschland und Europa.

 

So viel zu meinen geografischen Heimaten. Alle Menschen haben allerdings noch eine weitere Heimat, und das ist die Sprache. Glücklicherweise bin ich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr in zwei Sprachen beheimatet: In der persischen und in der deutschen. Damit kann ich also sagen, dass ich vier oder fünf Heimaten habe – und wie froh bin ich über diese Heimatsvielfalt! Da es mir im Iran verwehrt gewesen ist, auf staatlichen Posten zu arbeiten, verbrachte ich meine Tage mit Schreiben und Übersetzen und schwang wie ein Pendel immerzu zwischen diesen beiden Heimaten hin und her, ich schlenderte ausgelassen, schwankte und wankte, ja, rollte wie ein Betrunkener von den weinartigen Schönheiten der einen Seite zu jenen auf der anderen. Aber die Heimat meiner Kindheit und Jugend habe ich verloren, als ich nach Berlin ging ­– zusammen mit all den Freunden, Erinnerungen, dem Publikum und den gesellschaftlichen Kreisen, die Du ebenfalls erwähntest.

 

Ich gestehe, dass allein der Verlust dieser Möglichkeiten mich manchmal um den Verstand bringt, mich ausbrennen lässt. In welcher der sprachlichen Heimaten ich auch bin, mein Herz vermisst stets die andere, und immer dann, wenn ich in einer zu lang verweile, ist die andere gekränkt, ich könne sie vergessen haben. Ja, manchmal ist diese Vielfalt der Heimaten schwer zu handhaben und ich werde über sie hinausgeworfen, an einen Nicht-Ort und in eine Nicht-Zeit, für die ich keine Namen weiß. Wer weiß, vielleicht sind das zwei Wesenszüge des Fremdseins: Sprachen-Zeit und Orte-Verwirrung. Ich sollte mich wohl darum kümmern, diesem Mangel beizukommen. Ich falle Dir nicht länger zur Last.

Bis zum nächsten Brief,

mit freundlichen und respektvollen Grüßen

Ali Abdollahi

 

 

[1] Esfand ist der Name des zwölften und letzten Monats des Sonnenkalenders, der im Iran und Afghanistan verwendet wird. Nach dem Gregorianischen Kalender beginnt der Esfand im Februar und endet im März.

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