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Europa Weiter Schreiben - Briefe > Zia Qasemi & Ali Abdollahi > Der Himmel hat überall die gleiche Farbe - Brief 3

Der Himmel hat überall die gleiche Farbe – Brief 3

Zia Qasemi an Ali Abdollahi, Uppsala, 06. November 2022

Übersetzung: Bianca Gackstatter aus dem afghanischen Persisch

© Privat

 

Hallo, lieber Ali,

vielen Dank für Deinen freundlichen Brief. Es stimmt, dass Worte, wenn sie aufgeschrieben werden, eine andere Welt erschaffen. Mir ist durch Deinen Brief nun einiges klar geworden, was mir all den Jahren unserer Bekanntschaft so noch nicht klar war. Anfang der 1370er Jahre nach dem Sonnenkalender[1] bin ich dir zum ersten Mal im Rahmen einer Dichterlesung begegnet – es war diejenige, die Du in Deinem Brief erwähnt hast. Du warst damals Student an der Teheraner Universität. Seitdem habe ich Deine Gedichte und Übersetzungen kontinuierlich verfolgt, mich über jede Veröffentlichung von Dir gefreut und mich bei jedem Erfolg Deiner Bücher meiner Freundschaft mit Dir gerühmt. Dein Brief hat mir jedoch neue Dinge offenbart, wie beispielsweise Deine Erfahrungen mit dem Krieg und den Kindersoldaten.

Wir stammen aus einer aufgewühlten Region. In jeder Dekade unseres Lebens erleben wir Dinge, denen andere Menschen auf der Welt womöglich in ihrem ganzen Leben nicht begegnen. Aus diesem Grund werden wir früh selbständig und erwachsen, altern schnell und sterben früh. Obwohl ich noch keine fünfzig bin, fühle ich mich alt und denke, dass mir das Leben nichts Neues mehr zu bieten hat.

Im Alter von etwa zwanzig Jahren habe ich mich einmal sehr für Kants Philosophie interessiert. Durch die ständigen Ortswechsel war es mir zu dieser Zeit aber nicht möglich, seine Werke genauer zu studieren. Vor einigen Monaten erinnerte ich mich wieder an diese Faszination und wollte mich erneut der Lektüre widmen. Die rasche Erkenntnis, dass ich viele seiner Konzepte bereits praktisch gelebt habe, schmälerte jedoch meine Neugier und die Begeisterung, die ich in jenen Jahren empfunden habe.

Krieg und Vertreibungen nahmen unserer Generation viele ihrer Träume und ihren Enthusiasmus und machten unser Leben so bitter, dass dieser Geschmack sich an unserem Gaumen festgesetzt hat. Vor ein paar Tagen habe ich im Bus den Roman „Zinkjungen“ von Swetlana Alexijewitsch gelesen. Das Buch dokumentiert den sowjetischen Krieg in Afghanistan und der Titel rief in mir eigene Erinnerungen an diesen Krieg wach. In meinem vorigen Brief hatte ich ja geschrieben, dass ich sechs oder sieben Jahre alt war, als sowjetische Flugzeuge unser Dorf bombardierten. Drei Familien wurden zu Grabe getragen, von einem sieben Monate alten Kind bis zu einem siebzigjährigen Mann. Auf dem Dorffriedhof, auf dem sonst in einem Jahr ein bis zwei Gräber neu ausgehoben wurden, fügte man plötzlich innerhalb eines Tages siebzehn neue Gräber hinzu. Drei oder vier Monate später wurde ein Bus, mit unserer Nachbarin und ihren beiden kleinen Töchtern an Bord, von sowjetischen Hubschraubern unter Beschuss genommen. Die Frau und eine ihrer Töchter wurden dabei getötet. Zeinab, die andere Tochter, hat zwar überlebt, aber ihr verletztes Bein konnte nicht behandelt werden, so dass sie seitdem gehbehindert ist. Ich weiß nicht, in welchem Teil der Welt sich Zeinab gerade aufhält. Aber bis sie vor ein paar Jahren vierzig wurde, war sie immer noch unverheiratet: Wegen ihres Beins hatte ihr niemand einen Antrag gemacht.

In ihrem Roman „Zinkjungen“ hat Swetlana Alexijewitsch den Krieg in den Worten sowjetischer Soldaten, ihrer Mütter und Angehörigen dokumentiert. Ihre Beschreibungen sind sehr emotional und ergreifend. Beim Lesen eines der Kapitel, in dem die Geschichte einer Mutter erzählt wird, die ihren einzigen Sohn verloren hat, konnte ich meine Wut nicht zurückhalten. Unter den verwunderten Blicken der anderen Passagiere vergoss ich ein paar Tränen über die Trauer einer Mutter, deren Sohn ihre ganze Welt war und der diese Welt auf einmal in einem Sarg zurückgegeben wurde.

Seltsam ist die Welt, und noch seltsamer sind die Menschen. Sitzen an irgendeinem weit entfernten Ort und vergießen Tränen um jemanden, der einst ihr Feind war.

Verfluchter Krieg, ganz gleich, welcher Art!

Lieber Ali, als ich Deinen Brief las, war ich in keiner guten Verfassung und natürlich ist mir bewusst, dass es auch Dir nicht gut geht. Zu jener Zeit, als ich Deinen Brief las, hatte in Kabul gerade ein Anschlag auf eine Schule stattgefunden, eine große Anzahl Schülerinnen wurde verletzt und getötet. Die anschließenden Proteste wurden von den Taliban mit erbarmungsloser Gewalt niedergeschlagen. Auch in Iran werden bis heute andauernd Proteste von der Regierung blutig niedergeschlagen. Das iranische Volk und wir, uns beide eingeschlossen, haben nun nicht mehr nur eine gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur, sondern auch ein gemeinsames Leid.

In Schweden hat die Koalition der Einwanderungsgegner die Wahlen gewonnen. Schon jetzt sind die schwedischen Einwanderungsgesetze außerordentlich streng und teilweise unmenschlich. Selbst nach drei Jahren Ehe konnte ich aufgrund dieser Gesetze meine Frau, die in Iran lebt, noch nicht nach Schweden holen. Seit drei Jahren leben wir mit all unserer Liebe und all unserer Sehnsucht weit voneinander entfernt. Und nun bringen mich die aggressiven und bedrohlichen Parolen der an der Regierung beteiligten Anti-Einwanderungspartei mit diesem Albtraum an die Schwelle des vierten Jahres.

In Deinem Brief hast Du Dein Bedauern über Misshandlungen meiner Landsleute durch die iranische Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. Ich allerdings kann mich über Deine Landsleute nicht beschweren. Während meines Aufenthalts in Iran waren die Menschen nie unfreundlich zu mir. Die Gesetzgebung war jedoch größtenteils diskriminierend und Einwanderer galten offiziell als Bürger zweiter Klasse. Noch heute achte ich darauf, niemals wieder in eine solche Lage zu geraten. Ich mache mir große Sorgen, dass das Schweden, das für mich gestern noch von Olof Palmes Prinzipien der Humanität und der Gleichheit geleitet schien, morgen schon zu Jimmie Åkessons Schweden werden könnte, in dem Menschen klassifiziert und in Kategorien eingestuft werden sollen.

Schau, wo wir auch hingehen, der Himmel hat überall die gleiche Farbe. Aber es scheint, dass die Menschen einfach nicht davon ablassen können, Grenzen zu ziehen und zwischen Nationalitäten und Rassen zu unterscheiden. Die ganze Welt verhält sich so.

In einem solchen Gemütszustand habe ich Deinen Brief gelesen. Mit einem um Afghanistan weinenden Auge, einem wegen Iran trauernden Herzen und einem um Schweden besorgten Geist.

Ich bin Dir sehr dankbar dafür, dass Du meinen Roman gelesen hast. Deine Meinung bedeutet mir viel und es freut mich sehr, dass er Dir gefallen hat. Letzten Monat erst hat ein Verlag in Kuwait eine arabische Übersetzung veröffentlicht. Ich hoffe, dass das Buch eines Tages auch in andere Sprachen übersetzt wird, der Traum eines jeden Schriftstellers.

Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir einander schreiben können.

Ehrlich gesagt, in diesem Zeitalter der intelligenten Technologien und der Beschleunigung werden Menschen schnell zu einsamen Inseln. Es passiert nicht oft, dass man sich hinsetzt und mit einem Freund in einen Briefwechsel eintritt, ihm seine Sorgen und Nöte schildert und selbst zum Gesprächspartner für dessen Sorgen und Nöte wird. Ich danke Dir für diesen Austausch und Deine Begleitung.

Lebe glücklich, lieber Ali! In der Hoffnung, dass sich die Welt in Richtung auf Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit bewegen wird und Vertreibung und Heimatlosigkeit irgendwann aus dem Leben der Menschen verschwinden.

Dein Freund Zia

 

[1]    1990er Jahre nach dem gregorianischen Kalender

Voriger Brief:

Die Heimaten, die ich habe - Brief 2

Ali Abdollahi and Zia Qasemi: Ich habe Deinen herzlichen und unvermeidlich traurigen Brief gelesen. Würde ich Dir nun in der altmodischen Manier des Briefeschreibens antworten: „Meine Wenigkeit befindet sich wohl und es gibt keinerlei Betrübnis außer der Entfernung, mein sehr verehrter Herr …“, LesenText im Original

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