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Europa Weiter Schreiben - Briefe > Zia Qasemi & Ali Abdollahi > Hoffnung in Zeiten ihrer Abwesenheit – Brief 4

Hoffnung in Zeiten ihrer Abwesenheit – Brief 4

Ali Abdollahi an Zia Qasemi, Berlin,

Übersetzung: Sarah Rauchfuß aus dem Persisch

Mehran Samak und Kian Pirfalak, Quelle Social Media © Privat / Weiter Schreiben
Mehran Samak und Kian Pirfalak, Quelle Social Media © Privat / Weiter Schreiben

 

Mein lieber Zia, sei gegrüßt

ich hoffe, dass Du in diesen Tagen, in denen „das Himmelskatapult Steine des Aufruhrs regnen lässt“[1], Schutz vor all dem Leid finden kannst. Bitte entschuldige, dass ich Deinen Brief erst so spät beantworte. Seit drei, vier Monaten kreisen unsere Sorgen um die Zan, Zendegi, Azadi­-Bewegung und für anderes bleibt weder Kraft noch Zeit.

Während die Freiheitskämpferinnen und -kämpfer dieser Bewegung neue Maßstäbe für Mut setzen, verschieben die Unterdrücker mit ihren Taten die Grenzen des Begreifbaren wie des Grauenhaften.

Erlaube mir, dass ich einige der aufwühlenden Ereignisse kurz erwähne: Das Auto der Familie Pirfalak wird beschossen, darin zwei Kinder und ihre jungen Eltern. Der neunjährige Kian stirbt an Ort und Stelle, sein Vater trägt so schwere Verletzungen davon, dass er noch immer im Krankenhaus liegt. Die Mutter, die gerade ihren Sohn verloren hat, bringt dessen Leichnam mit der Hilfe von Freunden, Verwandten und Nachbarn zu sich nach Hause. Um den kleinen Körper zu kühlen, bis sie ihn am Tag darauf beerdigen können, sind sie genötigt, überall in der Nachbarschaft nach Eis zu fragen.

Zwei junge kurdische Männer, Freunde, sind gemeinsam auf den Straßen unterwegs, als in der Menge der Protestierenden plötzlich einen von ihnen eine Kugel trifft, die ihn augenblicklich tötet. Der andere lädt ihn sich verzweifelt auf den Rücken und trägt den Körper seines Freundes unter tausend Nöten nach Hause, während man ihn verfolgt und er immer weiter flüchten muss. Auf Bildern ist der in eine Decke gewickelte Leichnam zu sehen, wie er im Wohnzimmer des Hauses liegt. Um seinen Freund am nächsten Tag in Würde zu beerdigen, wacht der Trauernde bis zum nächsten Morgen an der Seite des Toten. Doch während der Beerdigung am folgenden Tag greifen die Sicherheitskräfte die Trauernden an und erschießen den Freund des Toten ebenfalls. Seine Beerdigung findet am Tag darauf statt.

Mehran Samak sitzt mit seiner Frau im Auto, die beiden sind frisch verheiratet. Das WM-Spiel Iran-USA ist gerade vorbei und sie bahnen sich den Weg durch den Trubel auf den Straßen. Hier töten die Unterdrücker Mehran Samak durch einen Kopfschuss. Trotz des Chaos gelingt es seinem Bruder, Mehrans Leichnam aus den Klauen der Agenten des Regimes zu retten. Bis zum Morgengrauen fährt er mit dem Leichnam im Auto in der Stadt herum und hält dann auf dem Parkplatz seines Elternhauses Wache, damit der Tote den Schergen des Regimes nicht wieder in die Hände fällt und er seinen Bruder beerdigen kann.

In den letzten vier Monaten haben sich Hunderte solcher Katastrophen ereignet, ich habe hier lediglich an vier Todesfälle aus den Provinzen Khuzestan, Kurdistan und Gilan erinnert. Das wahre Ausmaß der Katastrophe wird sich erst später zeigen.

Angesichts dieser Schilderungen fragst Du Dich vielleicht, was hinter dem mysteriösen Umgang der Familienangehörigen mit den Leichnamen ihrer verstorbenen Liebsten steckt. Ich bezweifle, dass einem Menschen des 21. Jahrhunderts die Erklärung dafür überhaupt in den Sinn kommen würde, und er wird sicher Schwierigkeiten haben, sie zu glauben. Die Antwort heißt:

– Sie wollen den Raub der Leichname verhindern!

– Und warum ist das nötig?

– Weil die Befehlshaber und Vollstrecker für jedes ihrer Opfer ein Szenario fingieren, das sie dann den Verwandten eintrichtern, mittels Gewalt und Propaganda. Nur wenn die Familie schweigt, wird ihr im Gegenzug ein paar Tage später der Leichnam ausgehändigt, unter der Bedingung, dass die Beerdigung in aller Stille vonstatten geht. Wenn sich die Familie wehrt, wird der Leichnam irgendwo begraben oder er verschwindet einfach.

Dies sind keine Szenen aus düsteren Horrorfilmen, es ist die Realität unserer Tage, da Richter und Henker ihre Verbrechen ins Gegenteil verkehren und ein falsches Narrativ erfinden, nachdem sie die Familienangehörigen emotional erpresst und ihnen sogar das Recht zu trauern genommen haben: Ein grausames Verbrechen wurde verübt und es wird irgendein Szenario konstruiert, um es zu rechtfertigen, um davon abzulenken oder um den Tathergang zu verfälschen – unter vollkommener Nichtbeachtung der Augenzeugen und der eindeutigen Indizien. An dieser Stelle ist der Schriftsteller gezwungen, zwischen den Zeilen zu lesen, das Ereignis aus der Perspektive des Opfers zu erzählen und sich dem Vergessen entgegenzustellen.

Wenn ich in der letzten Zeit den Stift zum Schreiben angesetzt habe, drängten sich sogleich hunderte Bilder, eines nach dem anderen, vor mein inneres Auge – Bilder von den mutigen Taten der jungen Leute, aber auch solche aus den tragischen Berichten über die Barbarei der Funktionäre des Regimes; es war mir unmöglich, bei jedem einzelnen dieser Bilder innezuhalten. Ständig geschah etwas Neues und wurde gleich darauf wieder vergessen. Es war, als würden sich neben den oft übersehenen Heldentaten auch die Katastrophen abnutzen, kurz nachdem sie sich ereignet hatten ­– der unersättliche, maßlose Appetit der Medien verschlingt die Ereignisse und dann: vollständiges Vergessen, scheinbare Normalisierung und ein Herunterspielen der Grausamkeiten, bis die Leserschaft vernashornt.[2] Irgendwann wird das Verbrechen dann rundweg geleugnet und aus dem Opfer in den Nachrichten auf Grundlage jener gefälschten Szenarien sogar ein Schuldiger gemacht.

Überwältigt von diesen Gedanken war ich einmal drauf und dran, Dir als Antwort keinen Brief, sondern bloß eine Liste mit den Namen der Opfer zu schicken, ohne jede Erklärung. Aber was für eine Bedeutung haben die gut fünfhundert Namen junger Menschen, die ihr Leben verloren haben, für Leser, die sie nicht kennen? So gut wie gar keine. Wenn jemand stirbt, sind seine Verwandten und nahen Freunde davon zutiefst betroffen. Wenn Politiker und Celebrities sterben, wie die Queen oder Maradona, weiden sich die Medien, Regierungen und Parlamente tagelang an ihrem Tod. Die Sensationsgierigen und die professionellen Klageweiber erwirtschaften so ihren Lebensunterhalt. Ist denn der grausame Tod hunderter junger Menschen im Iran oder in Afghanistan für die Medien wirklich nichts als Statistik? Wer wird in Zukunft von der Trauer in den Augen hunderter junger Menschen erzählen, die durch Schrotkugeln erblindet sind, und von dem Leid der 200.000 Menschen in den Gefängnissen?

Einzig Schriftsteller und Künstler können in dieser kritischen Lage gegen das Vergessen kämpfen und die Wahrheit aus dem Lügengebäude der offiziellen Fälschungen hervorzerren. Was für schreckliche Zeiten sind das, in denen wir schreiben!

Es mag Dich überraschen, aber wenn wir die wahrhaftigen Erzähler dieser Katastrophen sein wollen, sind wir, wie so viele andere, dazu verdammt, geduldig zu hoffen. Ja, vielleicht besteht unsere einzige Pflicht dieser Tage darin, uns in der vollständigen Hoffnungslosigkeit eine trotz allem unbezwingbare Hoffnung zu erhalten – andernfalls würden wir die Fähigkeit zu schreiben verlieren. Und nichts fürchten die Richter, Henker und Szenarien-Erfinder mehr als unsere Geduld und unsere Hoffnung. Denn Hoffnung lässt sich nicht töten, nicht stehlen und heimlich begraben. Hoffnung ist, wenn sie Bestand hat, der unbezwingbare Feind der Totalitaristen.

Lieber Zia, es gibt noch so viel zu sagen, aber ich muss den Brief an dieser Stelle beenden, er hat die 800 Wörter schon überschritten! Ich wünsche Dir, in diesen Zeiten des Aufruhrs, eine unermüdliche Hoffnung.

Dein Freund
Ali

[1] Der Vers stammt aus einem Gedicht des persischen Dichters Muhammad Urfi (1555–1591).

[2] Der Ausdruck „Vernashornung“ geht auf Eugène Ionescos Theaterstück „Die Nashörner“ (1957) zurück, in dem die Protagonisten sich einer nach dem anderen in Nashörner verwandeln – eine Allegorie auf die Abstumpfung und Entmenschlichung einer Gesellschaft (A. d. Ü.).

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