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Europa Weiter Schreiben - Briefe > Zia Qasemi & Ali Abdollahi > Heimat – etwas, das man besser nicht haben sollte - Brief 1

Heimat – etwas, das man besser nicht haben sollte – Brief 1

Zia Qasemi an Ali Abdollahi, 14. August 2022

 

Zia Gassemi © Privat
Zia Qasemi © Privat

 

Hallo mein verehrter Freund Ali,

ich hoffe, es geht Dir gut und Du bist von den Übeln dieser Zeit verschont. Einer Zeit, in der es, was auch geschieht, überall auf der Welt immer schlimmer wird. Zumindest empfinde ich es so. So wie es auch einen himmelweiten Unterschied gibt zwischen diesem Briefanfang und den Briefen, die ich in meiner Jugend im Namen meiner Familie geschrieben und aus dem Iran an unsere Verwandten in Afghanistan geschickt habe. Zu jener Zeit gab es weder Internet noch E-Mails, weder WhatsApp noch Viber. In unserer Heimatstadt Behsud wie auch in den meisten Städten Afghanistans herrschte Krieg. Manchmal erreichten die Briefe ihr Ziel, manchmal auch nicht. Aber in den Anfängen der Briefe und in ihrem weiteren Verlauf lag Hoffnung. Hoffnung, dass der Krieg in Afghanistan bald beendet sein möge und wir in unsere Heimat und unser altes Leben zurückkehren könnten. Jedoch ist der Krieg in Afghanistan noch immer nicht beendet und ich bin an einen von meinem Vaterland sehr weit entfernten Ort katapultiert worden.

Vor einiger Zeit führte mich meine schwedische Nachbarin, eine betagte Dame, durch ihr Haus und erwähnte dabei, dass sie darin geboren worden sei. Sie erzählte, es sei das Haus ihrer Mutter und schon sie sei in diesem Haus zur Welt gekommen. Ich dachte an meine Situation und versuchte, soweit ich mich erinnern konnte, die Anzahl meiner Umzüge zu zählen. Ich erkannte, dass mein Leben in der Heimat passé war und ich bei jedem Umzug irgendwo einen Teil von mir zurückgelassen habe. Jeder Umzug bedeutet, etwas zurückzulassen: Erinnerungen, Freundschaften, Fußspuren. Ein Leben voller Wehmut. Ich dachte daran, wie gut es die alte Nachbarin doch hat, in einem sehr sicheren Land zu leben und nicht wehmütig sein zu müssen.

Lieber Ali! Nachdem mich dieser Brief nun unbeabsichtigt dazu verleitet hat, von Nostalgie und Verlust zu sprechen, werde ich noch ein wenig mehr darüber schreiben. Meine Nostalgie galt immer hauptsächlich der Heimat. Über Heimat zu schreiben ist gar nicht so einfach für jemanden, der nie das Gefühl von Heimat in seiner vollen Bedeutung erlebt hat. Der berühmte palästinensische Dichter Mahmud Darwisch schuf eine Interpretation von Heimat, die auf der Lebenserfahrung von solchen Menschen wie uns basiert: „Meine Heimat ist ein Koffer.“ Für mich, der ich meine Heimat mehrere Male verloren habe, ist dieses Bild völlig zutreffend. Vielleicht fühlte ich den Verlust von Heimat zum ersten Mal, als ich von meiner Großmutter getrennt wurde. In meinen Kindheitstagen war meine Großmutter eine Säule der Liebe und Güte für mich, der Schoß für all meinen kindlichen Kummer und meine Freuden. Als sich der Krieg in unserem Dorf verschärfte und unser Dorf bombardiert wurde, entschied mein Vater, dass wir in den Iran auswandern würden. Diese Bombardierung veränderte das Schicksal unseres Dorfes. Das entsetzliche Geräusch der explodierenden russischen Napalmbomben, die Berge und Ebenen erbeben ließen, gefolgt von schwarzen Rauchsäulen, die in den Himmel emporstiegen, und anschließend die Errichtung von siebzehn kleinen und großen Gräbern mit roten und grünen Flaggen auf dem Dorffriedhof – so wurde ein Großteil der Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner in die Flucht getrieben. Zunächst flohen die Familien aus den Dörfern in die Berge und ließen sich dort in Höhlen nieder. Später wählten einige, so wie wir, den Weg der Migration.

Als wir gingen, war ich neun Jahre alt. Der Lastwagen wartete auf einer unbefestigten Straße auf der anderen Seite des Helmand-Flusses, um uns und ein paar andere Familien abzuholen und mitzunehmen. Meine Großmutter begleitete uns bis dorthin. Sie überquerte mit uns den Fluss und blieb neben dem Lastwagen stehen, um uns beim Einsteigen zuzusehen. Der Lastwagen fuhr los. Sie und die anderen, die gekommen waren, um ihre Angehörigen zu verabschieden, blieben am Straßenrand im Staub stehen. Immer weiter entfernte sich der Lastwagen und durch meine tränennassen Augenlider konnte ich sehen, wie sie immer kleiner wurden. Dies ist das letzte Bild, das mir von ihr in Erinnerung geblieben ist. So sehr weinte ich, dass ich schließlich auf dem Schoß meiner Mutter einschlief.

Der Frieden meiner Kindheit wurde durch die Erfahrungen im ersten Jahr der Migration unterbrochen. Ich habe schnell verstanden, was es heißt, anders zu sein, fremd zu sein und die Heimat verloren zu haben. Ob in der Schule oder in der Nachbarschaft, überall wurde ich „Afghane“ genannt. Öfter als mit meinem Namen wurde ich mit meiner Nationalität angesprochen.

„Diese Weste ist das Einzige, was mir aus meiner Kindheit geblieben ist. Das einzige Erinnerungsstück an meine Kindheit und an meine Heimatstadt. Im Jahr 1980 war ich sechs Jahre alt und meine Großmutter schickte die Wolle unseres schönsten Lamms zu einer Wollschneiderin, die mir diese Weste anfertigte.“

Im Frühjahr 2006, nach dreiundzwanzig Jahren im Exil, kehrte ich in mein Heimatland zurück. An den Ort, der dreiundzwanzig Jahre lang die Heimat aus meinen Träumen gewesen war, meine mentale und emotionale Kraftquelle für schlechte Tage. Ich erinnere mich, dass mein Vater in den ersten vier, fünf Jahren nach der Emigration weder einen Kühlschrank noch einen Fernseher oder ähnliche Dinge kaufte. Er sagte immer: „In Afghanistan wird es bald Frieden geben und wir werden nach Hause zurückkehren.“ Es dauerte jedoch dreiundzwanzig Jahre bis zu dieser Rückkehr. Ich kam zurück, aber die Heimat war nicht das, was ich mir davon versprochen hatte. Mir, der ich im Iran aufgewachsen und zur Schule gegangen bin, war vieles in dieser Gesellschaft fremd geworden, oder besser gesagt, die Heimat war mir fremd geworden. Viele Verhaltensregeln kannte ich nicht, viele Zeichen habe ich missverstanden. Ich war in einer anderen Kultur aufgewachsen.

Fünf Jahre blieb ich in Afghanistan und versuchte, das Konzept Heimat zu erfassen. Aber die Heimat ist für mich keine Heimat geworden. Mein Herz wurde meiner Heimat entrissen, als ich nur knapp einer Explosion vor der indischen Botschaft entkam. Mein Herz wurde meiner Heimat entrissen, als ich auf dem Weg in meine Heimatstadt Behsud sah, wie die Taliban bei Jalrez eine Straße blockierten und zwei Personen enthaupteten. Ihre Leichen ließen sie am Straßenrand liegen, ihr Blut floss bis zur Mitte der Straße. Das Einzige, was ich tun konnte, war zu versuchen, meinen kleinen Sohn, der auf meinem Schoß saß, mit zitternden Händen vor dem Anblick der Leichen zu bewahren, während ich fürchtete, dass sie zurückkommen und auch uns aus dem Auto zerren könnten.

Natürlich habe ich in diesen Jahren auch gute Momente erlebt. Ich hatte auch gute Gefühle. Aber die Lage verschlechterte sich von Tag zu Tag. Präsident Karzai hatte aufgrund seiner ethnischen Interessen und seiner Abstammung entschieden, den Taliban, also den Feinden der Heimat, das Land zu überlassen. Ich hatte keine Hoffnung für die Zukunft, schulterte erneut die Reisetasche und verließ zum zweiten Mal meine Heimat.

Mein lieber Freund Ali! Vergangenes Jahr, ziemlich genau um diese Zeit, habe ich zum dritten Mal meine Heimat verloren. Diesmal noch weitreichender und bitterer als je zuvor.

Ich habe mir in jenen zwei, drei Tagen Videos angesehen, die mich völlig betäubten. Das Gedränge am Kabuler Flughafen, Menschen, die an Flugzeugen hängen, und später einige, die von den Flugzeugen herabfallen. Im Klassenraum hielt der Lehrer seinen Unterricht ab. Ich hatte damals die schwedische Sprache noch nicht gut gelernt und verstand kein einziges Wort von dem, was er sagte. Mein Kopf war ohnehin völlig in Beschlag genommen von den Bildern flüchtender Menschen, von einer Flut an Nachrichten von Verwandten, Freundinnen und Freunden, virtuellen Kontakten und sogar von Leuten, die ich gar nicht kannte. Sie alle baten um Hilfe bei der Flucht aus Afghanistan. In Kabul verbreitete sich das Gerücht, dass diejenigen, die im Ausland leben, ihre Familienangehörigen aus Afghanistan holen könnten. Die Erwartungshaltung war groß. Mir schmerzte das Herz ob ihrer Angst und Verzweiflung, doch ich konnte nichts tun.

Der Lehrer sprach über soziale Dienste in Schwedens Altersheimen, während ich an meine alten Eltern dachte und mir Sorgen machte, was jetzt in dieser Schlangenhöhle mit ihnen passieren würde. Ich dachte an den alten Mann aus einem Video, der von den Taliban mit einem Gewehrkolben geschlagen wird. An dem Tag, an dem Kabul fiel, sowie an den darauffolgenden Tagen, fühlten tatsächlich alle Afghanen so wie ich absolute Verzweiflung. Eine Verzweiflung, die aus der Zerstörung all ihrer Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre rührte. Nachdem sie jahrelang Krieg, Flucht und Vertreibung ertragen hatten, nachdem sie wie Vögel Reisig zusammengetragen hatten, Stück für Stück, um sich ein Nest zu bauen, nachdem sie einen Teil der Ruinen des Landes wieder aufgebaut hatten, Stein für Stein. In diesen zwanzig Jahren hat sich eine Generation entwickelt, die mit Eifer studierte, sich mit Kunst und Literatur beschäftigte, Zeitungen und Verlage gründete und freie Meinungsäußerung erlebte. Die Taliban konnten das nicht mitansehen. Es quälte sie, zu sehen, dass Frauen ein Recht auf Bildung und Arbeit haben. Zu sehen, dass in den Medien Musik gespielt wurde, dass die Presse frei veröffentlichte, was sie wollte, zu sehen, dass Menschen, die anderen Ethnien und Religionen als sie angehören, gleiche Rechte und politische Teilhabe forderten – all das brachte ihr Blut zum Kochen. Mit Hilfe der Solidarität auf der Grundlage einer gemeinsamen ethnischen Zugehörigkeit des unqualifizierten Präsidenten Ashraf Ghani okkupierten sie plötzlich das ganze Land. Wie ein Wirbelsturm Vogelnester attackiert, so zogen sie übers Land und zerstörten die Errungenschaften der Menschen, vor allem die der jungen Generation. Ein Großteil der Presse, der Universitäten, Verlage und Buchhandlungen wurden geschlossen, künstlerische und literarische Vereinigungen wurden aufgelöst. All unsere Freuden haben wir verloren, ein wirklich bitterer Verlust. Dieser Brief sollte von Wehmut und Heimatlosigkeit erzählen. Heraus kamen vielleicht etwas ungeordnete und unzusammenhängende Wörter und Sätze ­– dem Geist einer Person entsprechend, die Vertreibung erlebt hat. Ich weiß, dass auch Du Vertreibung erlebt hast. Dass Deine Existenz zweigeteilt ist, dass sich Dein Körper in einem Land befindet, dessen Boden und Steine ihm fremd sind, und Deine Seele in den brennenden Wunden Deines Heimatlandes zurückgeblieben ist.

Es tut mir leid, dass der Ton dieses Briefes so bitter geworden ist. Ich hoffe, Du bist glücklich, lieber Ali!

 

Ich warte auf Deine Antwort.

Dein Freund Zia Ghasemi

Nächster Brief:

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Ali Abdollahi and Zia Qasemi: Ich habe Deinen herzlichen und unvermeidlich traurigen Brief gelesen. Würde ich Dir nun in der altmodischen Manier des Briefeschreibens antworten: „Meine Wenigkeit befindet sich wohl und es gibt keinerlei Betrübnis außer der Entfernung, mein sehr verehrter Herr …“, LesenText im Original

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