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Europa Weiter Schreiben - Briefe > Omar Kaddour & Widad Nabi > Das Nördliche Breitmaulnashorn - Brief 3

Das Nördliche Breitmaulnashorn – Brief 3

Widad Nabi an Omar Kaddour, Berlin, 23. September 2022

Übersetzung: Larissa Bender aus dem Arabischen

© Widad Nabi
© Widad Nabi

 

Lieber Omar,

aus dem Fenster meiner Berliner Wohnung schaue ich auf einen kleinen Innenhof, der von mehreren Wohnhäusern umgeben ist. Die Blätter der Bäume haben verschiedene Gelbtöne angenommen, Regentropfen glänzen auf den Ästen der Pappel und ein kleines Eichhörnchen klettert die Eiche hinauf, um sich vor der Kälte zu schützen, die der Regen hinterlassen hat. Es ist Herbst, und sein Geruch erfüllt die Erde und mein Gedächtnis. Jeder Herbst ist die Ankündigung eines neuen Verlusts. Ein vollkommenes Dahinschwinden, dem eine neue Geburt folgen wird. All diese Gedanken versetzen mich zurück an den beengten Ort, von dem wir geflohen sind: nach Aleppo.

Wie das Eichhörnchen im Garten den Baum erklettert, so erklettere ich meine alten Erinnerungen, pflücke die bittersüßen Haselnüsse und gehe in der Zeit etwa acht Jahre zurück.

Damals im Herbst lief ich durch den Regen in Aleppo, um Deinen Vater zu besuchen, der mein Lehrer und Freund war. Ich schaute mit ihm das Familienalbum an. „Das ist Omar“, sagte er bei einem Bild.

Meine Gedanken wandten sich sofort dem Schreiben zu, ich fühlte mich eng mit Dir verbunden, weil Du ein Schriftsteller warst. Ich selbst befand mich damals erst am Anfang meiner schriftstellerischen Laufbahn, aber in jenem weit entfernten Herbst in Aleppo begann sich ein Faden zwischen uns anzuspinnen, der uns bis jetzt, über all diese Jahre, bis nach Berlin und Paris, begleitet hat. Wir haben uns also nicht damals in jener engen Stadt getroffen, sondern erst über die Seiten dieser Briefe, und es war, als würden wir ein früheres Gespräch aus einem Aleppiner Café oder aus dem Haus Deiner Familie fortsetzen. Vielleicht ist die Sprache der uns gemeinsame Mutterleib, durch den wir, deren Beruf die Schriftstellerei ist, miteinander verbunden sind.

Weißt Du, Omar, vielleicht ähnelt das Gespräch über die ersten Städte unseres Lebens dem Laufen über ein Feld, in dem die Gebeine Deiner Liebsten liegen und auf dem Du immer wieder über die Erinnerung an einen geliebten Menschen stolperst.

Ich kehre zurück zu dem Eichhörnchen im Garten, das sich einem anderen Eichhörnchen nähert. Ich hoffe so sehr, dass unsere Kinder aufwachsen und diese und andere schöne Geschöpfe sehen werden, die in den Gärten und Wäldern dieser Welt spielen. Denn die Nachrichten über den Klimawandel, die Krise der biologischen Vielfalt und das Verschwinden der Wälder erzeugt in mir eine große Angst, eine Angst, die über den engen Ort hinausgeht, aus dem wir geflohen sind – sie umfasst die ganze Welt.

Einige Tage lang verfolgte ich voller Traurigkeit zusammen mit Millionen Menschen die Bilder des Nördlichen Breitmaulnashorns, das allein, fernab seiner Artgenossen, starb. Wusste es über sein Schicksal als letztes Männchen seiner Art auf dieser Erde Bescheid? Sein einsamer Tod auf den Bildschirmen und Nachrichtenseiten erinnerte uns daran, dass wir ein ähnliches Schicksal erleiden könnten, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Dieser Tod war ein Warnzeichen, auch für unsere menschliche Gattung.

Seit Jahren schaue ich mir Dokumentarfilme über unseren Planeten an und empfinde tatsächlich körperliche Schmerzen, wenn ich die vielen Geschöpfe sehe, die vor unseren Augen und durch unsere Schuld aussterben – wegen unseres Hochmuts, unserer Arroganz und unserer Konsum- und Besitzgier.

In einem Bericht der BBC fragte der Journalist John Sudworth einen chinesischen Elfenbeinhändler namens Liu Fenghai, ob er es nicht schöner fände, wenn die Elefanten lebten, statt dass er sie tötete. „Elfenbein ist das beste Material für die Bildhauerei“, antwortete er. „Selbst wenn das Stück so klein ist wie ein Reiskorn. Sogar darauf können Sie ein Gedicht meißeln.“ Ich habe lange über diese Antwort nachgedacht. Warum sieht er nicht die Millionen von lebenden Gedichten, sondern bevorzugt ein totes, mumifiziertes Gedicht? Die Antwort heißt: Weil es ihm Reichtum ermöglicht. Und genau das ist das Problem der modernen Welt, die durch die Wünsche und Vorstellungen des Raubtierkapitalismus bestimmt wird. Eine Welt, so schön wie ein totes Gedicht.

Es ist so traurig, dass kaum jemand in dieser Konsumwelt lebende Gedichte bevorzugt. Wir werden vom Konsumzwang beherrscht. Wir beeilen uns, alles Mögliche zu kaufen und immer mehr und mehr zu wollen. Wir scheren uns nicht um unseren Plastikmüll, der Hunderttausenden von Lebewesen schadet, wir machen Fotos mit vom Aussterben bedrohten Lebewesen, ohne darüber nachzudenken, auf welche Weise wir an ihrem Untergang Anteil haben …

Wie ist es so weit gekommen, dass sich unsere Welt in all ihrer Eigenart und Einzigartigkeit und mit all den Verschiedenartigkeiten der Völker in einen großen Konsumtempel verwandelt hat, in dem sich alles auf geradezu ekelhafte Weise ähnelt? Das einzige Ziel ist der Gewinn, beruhend auf dem Egoismus und der Ignoranz gegenüber unseren Partnern unter den anderen Lebewesen, die unsere Menschwerdung über Millionen Jahre begleitet haben.

Die Zahlen belegen, dass jährlich Hunderte Arten für immer aussterben. Wie können all diese Leben einfach so ausgelöscht werden? Wie kann es sein, dass wir die Wälder vernichten und unseren persönlichen Müll wie den Industriemüll in die Meere werfen? Dass täglich gesprochene Sprachen aussterben, die Tausende von Jahren gelebt haben? All dies geschieht im Zeichen der Moderne und des alles dominierenden Kapitalismus.

Im Sommer dieses Jahres beängstigte uns der Anblick der ausgetrockneten Flüsse weltweit, und diese Entwicklung ging einher mit der sechsten Welle des Artensterbens, der Zerstörung einer großen Anzahl auf dem Land lebender Arten.

Es ist wirklich tieftraurig, lieber Omar, dass das alles bekannt ist und sich ständig wiederholt, ohne dass es jemanden zu interessieren scheint.

Doch wem können wir einen Vorwurf machen? Zuerst einmal uns selbst – und dann den Staaten, den Regierungen und den multinationalen Konzernen, die die weltweiten Krisen verursachen. Wenn ich darüber nachdenke, was in den Ländern der sogenannten Dritten Welt geschehen ist und noch immer geschieht, werde ich wütend auf Europa und Amerika, denn würden deren Regierungen nicht die Diktatoren unterstützen, würden wir vielleicht heute zusammen in Aleppo oder Damaskus über die Krise der biologischen Vielfalt sprechen, statt in einem Briefwechsel zwischen Berlin und Paris.

Menschenrechte und die Werte der Demokratie gelten für Europäer und Amerikaner nur innerhalb ihrer eigenen Länder; was außerhalb ihrer Grenzen liegt, betrachten sie nur als Märkte für ihre Waren, für ihre Produkte und Waffen. Bin ich damit etwa in die Falle der Verallgemeinerung getappt? Vielleicht. Aber wir sprechen hier über Regierungen und nicht über Völker.

Sieh Dir zum Beispiel an, wie der Diktator Putin die Ukraine überfiel. Da erregten sich Europäer und Amerikaner, als hätte ihnen jemand kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Aber wo waren sie, als Putin und seine Armee Aleppo und die anderen syrischen Städte bombardierten und Häuser, Städte, Spielplätze und Krankenhäuser zerstörten? Er probierte seine Waffen an den Syrern aus, um sie später in der Ukraine einzusetzen. Leider stand Deutschland damals felsenfest zu Russland, die Gasabkommen waren unterzeichnet, und genauso verfährt Deutschland jetzt wieder mit den Golfstaaten wegen des Öls.

Oder nimm das Gas, das aufgrund der Politik einzelner Staaten und wegen ihrer Missachtung des Klimawandels eine solche Krise heraufbeschworen hat! Hätte Europa sich nicht schon längst den alternativen Energien zuwenden müssen? Aber, wie ich schon sagte, es ist der monströse Kapitalismus, der immer auf der Jagd nach den niedrigsten Preisen ist, und sei es auf Kosten der Völker und der Natur.

Heute schaue ich ohne großes Heimweh auf mein Leben in Syrien zurück. Aleppo ist mittlerweile so weit entfernt wie ein Stern, der vor Millionen Jahren erlosch, auch wenn er in meiner Erinnerung immer noch leuchtet. Der Faden, der mich mit der Stadt verbindet, ist so dünn geworden wie ein Spinnenfaden, und vielleicht könnte ein starker Windstoß ihn für immer zerreißen.

Habe ich meine Stadt verraten? Möglicherweise! Heute habe ich das Gefühl, dass Grenzen und Heimaten Illusionen sind, die die Politiker erfunden haben, um die Bevölkerung zu beherrschen, um sie in Hass und Tod zu treiben, damit die Mächtigen die Schätze der Welt ungehindert an sich bringen können.

Schau Dir die Vögel und die Meerestiere an, die jedes Jahr von Ort zu Ort ziehen und ohne Schwierigkeiten Tausende von Kilometern zurücklegen. Hätten wir uns nicht so weit von unserer natürlichen Lebensweise entfernt, dann wären wir, die Natur und wir, womöglich gesünder, freier und sicherer, als wir es heute sind.

 

Alles Liebe

Widad

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