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Mutterleibsverbindung – Brief 2

Omar Kaddour an Widad Nabi, Paris, 06. September 2022

Übersetzung: Sonja Jacksch Aus dem Arabischen

Bild von Beinen auf einem Pfosten und der Stadt Damaskus© Boris Thaser und tourundreise / Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
© Boris Thaser und tourundreise / Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Liebe Widad,

Wie kommt es, dass wir uns früher nie getroffen haben? Wir stammen aus derselben Gegend, und damit meine ich nicht nur das Land, ich meine dieselbe Stadt. Und frage mich daher: Warum haben wir uns vorher nie dort getroffen?

Ich habe Aleppo vor eineinhalb Jahrzehnten verlassen. Ich weiß noch, wie ich die Entscheidung traf. Eines Abends war ich gerade aus dem Haus getreten und entschied mich, zu Fuß zum Café zu gehen. Auf dem Weg dorthin begegnete ich nach etwa siebenhundert Metern einer alten Liebe. Wir blieben stehen und tauschten einige Nettigkeiten aus. Nach weiteren fünfhundert Metern sah ich eine andere Frau. Wir hatten uns vor Kurzem getrennt, und ich weiß nicht, ob es Glück oder Pech war, dass sie mich nicht bemerkte, jedenfalls entschied ich mich, eine direkte Begegnung zu vermeiden.

Ich ging weiter und der Gedanke ließ mich nicht los, dass die Stadt ein sehr enger Raum war. Mit nur leichter Übertreibung sagte ich mir, dass ein Weg von drei Kilometern, also die Entfernung von meiner Wohnung zum Café, genügt, um auf jede Frau und jeden Mann zu treffen, die ich kenne, auf Freunde, Verwandte und vielleicht auch auf Spitzel. Wieso haben wir uns also vorher nie in der Gesellschaft gemeinsamer Freunde auf diesen drei Kilometern getroffen?

Tschüss, Aleppo, sagte ich zu mir selbst. Es wird nach Damaskus gehen, da ich mir nicht vorstellen kann, in eine kleinere Stadt zu ziehen. Am Vorabend meiner Abfahrt nach Damaskus sagte ich meiner Mutter und meinem Vater, dass ich verreise. Sie machten sich keine Sorgen wegen dieser Nachricht, denn ich reiste häufig nach Damaskus, ohne sie darüber zu informieren, und sie waren an meine Abwesenheiten gewöhnt. Ich setzte hinzu, dass ich fortgehe, um mich dort niederzulassen, und wurde von der Sprachlosigkeit meines Vaters und den Tränen meiner Mutter überrascht: Sie hatten die Tragweite meiner Worte erkannt. In diesem Moment spürte ich, dass sie gealtert waren und dass ich wegging, bevor die Zeit kam, da sie mich an ihrer Seite brauchen würden. Meine Abwesenheit von ihnen und vom Elternhaus war die Regel, seit ich mein Studium begonnen hatte. Vielleicht haben wir, Du und ich, uns ja auch deshalb nie dort bei meinem Elternhaus getroffen.

Später, in einem anderen Telefongespräch mit meiner Mutter, würde meine Tante – die zufällig bei ihr zu Besuch war – mir sagen, sie sei sicher gewesen, dass ich nach Damaskus zurückkehren würde. Denn wer seinen ersten Atemzug in dieser Stadt getan habe, müsse zu ihr zurückkehren. Auch ich wollte mich lieber als Rückkehrer denn als Zuwanderer sehen, auch wenn zwischen der Rückkehr und den lange vergangenen Kindertagen fast dreieinhalb Jahrzehnte lagen.

Meine Mutter sprach mit mir nicht über diesen Ort der Kindheit. Vielleicht tat sie die Sache damit ab, dass ich sowieso nie lange an einem Ort bleiben konnte. Oft spottete sie: „Du konntest dich nicht einmal neun Monate in meinem Bauch gedulden.“ Damit meinte sie, dass ich ihren Bauch bereits zum Ende des siebten Monats verlassen hatte, denn ich scheine unruhig gewesen zu sein und es eilig gehabt zu haben, meinen ersten Ort zu verlassen. Ich leide an Klaustrophobie, und vielleicht hängt dies mit den Schwierigkeiten zusammen, die ich als Fötus hatte, Schwierigkeiten, die meinen Eintritt in die Welt beschleunigten. Aber ist nicht der Mutterleib unser erster Ort? Ist er nicht ein Ort vor der Erinnerung, auch wenn viele bewusst oder unbewusst von der Sicherheit und dem Seelenfrieden träumen, die sie nur als Fötus erlebt haben? Ist er nicht unser verlorenes Paradies? Und denken Mütter daran?

In unserer traditionellen Vorstellungswelt ist Verwandtschaft mit dem Mutterleib verbunden. Es gibt einen bekannten arabischen Begriff, nämlich „Mutterleibsverbindung“, eine Anspielung auf die Verbundenheit mit den Verwandten. Mir fällt auf, dass ein Ort in unserer Erinnerung einen ähnlichen Platz einnimmt wie dieses symbolische Bild vom Mutterleib. Es gibt eine Verbindung, die der Verwandtschaft ähnelt, wenn wir beispielsweise über Leute aus Aleppo als „Halabiya“ oder über Leute aus Damaskus als „Shawam“ sprechen. Vor Jahren traf ich in Berlin Mohamed, Deinen Ehemann, und vielleicht habt Ihr damals Eure Beziehung begonnen oder Euch verlobt, jedenfalls gratulierte ich ihm und scherzte, dass er „unser Schwiegersohn“ werden würde. Ich sprach, wenn auch im Spaß, im Namen von Aleppo, wohin wir einst gehört hatten. Viele Jahre zuvor hatte Mohamed mir gegenüber auf ähnliche Weise seine Freude zum Ausdruck gebracht, als er im Namen der Stadt Baniyas sprach, deren „Schwiegersohn“ ich damals wurde.

Zurück zu meiner Klaustrophobie. Weil ich darunter litt, fürchtete ich mich davor, verhaftet und in eine enge, stickige Zelle gesteckt zu werden. Jetzt, aus der Ferne, denke ich, wie viel diese Krankheitserscheinung von dem Land Syrien in sich trägt. Sicherlich gibt es noch andere Orte wie diesen, wo die Leute sich vor einer Verhaftung fürchten, weil sie gegen die Obrigkeit sind, und wo sie genau verstehen, was ich meine, weil sie unter derselben Phobie leiden.
Ich hoffe, Du hast diese Phobie nicht.

Tatsächlich denke ich, dass eigentlich alle, die unter einer Tyrannei gelebt haben, darunter leiden müssten. Sie müsste das ganz reale Gefühl überkommen, dass sie kurz davor sind, zu ersticken, dass die Städte, Gemeinden und Dörfer, in denen sie leben, sich immer enger um sie zusammenziehen, bis sie ihnen schließlich die Kehle zuschnüren.
An einer kleinen Metapher, wie ich sie im letzten Satz verwendet habe, ist nichts auszusetzen. Doch zu meinem größten Kummer entstammt es nicht nur der Fantasie oder einer Illusion, sondern vielmehr einem unerträglichen Realismus, wenn man sagt, dass es in Ländern, die von Tyrannen regiert werden, zum Atmen zu eng wird. Die enge, stickige Zelle ist der Ort, den sich der Tyrann für uns wünscht, und deshalb verwandelt er alle Orte in Kopien seines geliebten Gefängnisprototyps.

Bei uns sagte man irgendwann, dass unter der Herrschaft der Baath-Partei, genauer gesagt: unter dem Assad-Regime, beispielsweise Schulen in Form von Gefängnissen gebaut wurden und zur gleichen Zeit auch die trostlosen Häuser, in denen die Armen leben mussten, Gefängnissen zu ähneln begannen, zusätzlich stiegen ihre Preise exorbitant an. Aber nicht nur darum geht es. Denn ganz im Allgemeinen lassen die Tyrannen unser Leben verarmen, die Tage werden eintönig, wenn nichts Wichtiges passiert und niemand mehr auf etwas Wichtiges wartet. In diesem Sinne wird unser Lebensort enger, wird uns die Kehle zugeschnürt. Was bringen eine große Fläche und eine riesige Einwohnerzahl, wenn alles bloß aus öden Wiederholungen besteht? Lässt sich alles auf die drei Kilometer Bewegungsradius reduzieren, von denen ich eingangs sprach?
Vor fünf Jahren schrieb mir eine junge Deutsche namens Clara, die an der Universität Oxford zum Thema Musik in Aleppo promovierte und einen meiner Artikel als Einleitung für ihre Dissertation ausgewählt hatte. Wir trafen uns in Paris, und im Laufe unseres Gesprächs wies sie auf einen Teil des Artikels hin, in dem ich den israelisch-syrischen Sänger Moshe Eliyahu erwähne, der für seinen klassischen arabischen Gesang bekannt ist. Sie sagte, dass sie wegen meiner Worte über ihn nach Tel Aviv gereist sei, um ihn zu treffen, aber dass das Treffen aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands dann nicht stattfinden konnte.

Für ihre Doktorarbeit hatte Clara viele Länder besucht und viele Musiker und Musikexperten aus Aleppo getroffen. Zum Glück kann sie tun, was kein Syrer oder keine Syrerin ohne Weiteres tun könnte. Man stelle sich vor, nicht nur heute, sondern schon vor zwanzig oder dreißig Jahren – wie viele Länder würden wohl einem Syrer ein Einreisevisum gewähren? Der Tyrann, der unser Land in ein Gefängnis verwandelte, hat uns zu Gefängnisflüchtigen gemacht, die, sobald sie ein Visum erhalten, am neuen Ort bleiben und nicht in ihr Land zurückkehren werden. In keiner Botschaft sind wir mehr willkommen. Nicht mehr nur unser eigenes Land ist eng, nein, genau wegen dieses Gefängnislandes ist auch die ganze Welt für uns eng geworden.
Das alles muss für uns als Syrer aber kein unausweichliches Schicksal sein. Ich möchte von einem Gegenbeispiel erzählen: Bereits 2010 begann ich zu ahnen, dass Damaskus mich bald einschnüren würde und dass ich die drei Kilometer Bewegungsradius, die ich in Aleppo hinter mir ließ, auch hier wieder antreffen würde, auch wenn die Entfernung von meiner Wohnung zum Café, wo ich mich immer mit meinen altbekannten Freunden traf, hier größer war als dort. Doch es sollten nur wenige Monate vergehen, bis sich der Ort vollkommen weitete. Hier und da begannen Demonstrationen, in denen der Ruf nach Freiheit laut wurde, in Damaskus, Daras und Baniyas, bis die Zahl der gleichzeitig stattfindenden Demonstrationen fast achthundert erreichte, an achthundert verschiedenen Orten.
Wenn ich sage, dass sich der Ort zu jener Zeit plötzlich weitete, ist das keine Metapher. Ich spreche von Damaskus, das nicht mehr nur die Entfernung zwischen meinem Zuhause, dem Café und den alten Vierteln umfasste, die wir als Touristen besuchten. Ich spreche von dem Damaskus, das zu „Al-Midan“ wurde, zu Rukun Eldin, Daraya, Duma und Harasta, und über Syrien mit seinen Hunderten von Städten und Gemeinden, die aus der Monotonie ihres alten Schweigens erwachten. Mit jedem neu hinzugekommenen Ort wurde das Land größer, und die Menschen entdeckten, dass sie nicht allein waren und nicht nur in einem Umkreis von drei Kilometern lebten.

Die Welt hat im Fernsehen gesehen, mit welcher Brutalität das Regime jenen Demonstrationen begegnete. Ich schätze, dass es unter den Millionen von Demonstranten und Demonstrantinnen Tausende Klaustrophobiker gab. Doch sie überwanden ihre Angst vor einer Verhaftung und die Furcht, in einer engen, stickigen Zelle zu landen, als sie sahen, wie sich das Land um sie und die anderen weitete. Bevor sie dann alle auch die wenigen Kilometer einbüßten, die sie zuvor gehabt hatten, und die Reise in die große Diaspora begann.

Ich verließ Damaskus, nachdem es für mich, weil ich mit Haftbefehl gesucht wurde, zur Bedrohung geworden war und zudem wie die übrigen Städte und Gemeinden übervoll von Geheimdienst, Militär und Schabiha-Miliz. Auf geheimen Wegen ging ich in den Libanon und von dort nach wenigen Monaten nach Frankreich. Ich schreibe Dir aus Paris, doch hier bin ich kein Besucher, wie ich es mir vor langer Zeit gewünscht hatte. Zu jener weit zurückliegenden Zeit waren meine Füße in Syrien, und mein Kopf und meine Gedanken durchstreiften die Welt. Jetzt sind meine Füße in Paris, aber mein Kopf – ich fürchte, dass ich ihn dort vergessen habe, an jenem eingeengten Ort. Ich wünsche mir, dass es Dir nicht genauso geht.

Liebste Grüße
Omar

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