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Europa Weiter Schreiben - Briefe > Omar Kaddour & Widad Nabi > Angst ist das ewige Metier der Eltern! - Brief 4

Angst ist das ewige Metier der Eltern! – Brief 4

Omar Kaddour an Widad Nabi, Paris, 29. September 2022

Übersetzung: Kerstin Wilsch aus dem Arabischen

Bild eines Mädchens © Ante Hamersmit / Unsplasch (manipuliert)
© Ante Hamersmit (modifiziert)

 

Diese Worte kamen mir in den Sinn, als ich Deinen ersten Brief las, liebe Widad. Vielleicht ist das nicht überall auf der Welt so, aber in unseren Ländern und Kulturen haben Mütter unaufhörlich Angst um ihre Kinder. Auch die Väter machen sich Sorgen, aber einige von ihnen vielleicht doch weniger, oder sie zeigen ihre Angst nicht so.

Ich beginne mit dem, was mir am schmerzlichsten erscheint – mit Deiner Frage: Wie kann jemand, der eine Mutter hat, die ihn gebadet und gestillt, ihm Liebe gegeben und seine Wiege geschaukelt hat, Kinder, Mütter und ganze Familien töten? Wie kann er es ertragen, eine Kinderschaukel und eine Wiege zu sehen, die bei einem Luftangriff zerstört worden sind? Bricht ihm das nicht das Herz, das Herz seiner Mutter, das Herz des Universums?

Bei dieser Frage erinnere ich mich an einen erstaunlichen Satz aus dem Roman „Der Herbst des Patriarchen“ von Gabriel García Márquez. Dort sagt die Mutter des Diktators: „Wenn ich gewusst hätte, dass er Präsident werden würde, hätte ich ihn zur Schule geschickt.“ Damit drückt die Mutter ihre Reue über ein Versäumnis aus und die Schule ist hier eine Metapher dafür, ihn nicht gut erzogen zu haben. Ich denke, dass „Der Herbst des Patriarchen“ trotz der Schrecken, die er beschreibt, im Vergleich zu unserer Realität noch eher sanfte Literatur ist. Ich bitte Dich um Entschuldigung, aber ich werde Dir jetzt einen Vorfall schildern, der sich mit einem Offizier aus dem engeren Kreis der Macht in Syrien zugetragen hat, der später bei dem Bombenanschlag auf den nationalen Krisenstab getötet wurde. Dieser Vorfall ereignete sich vor der Revolution:

Der Offizier veranstaltete in seinem Palast eine Geburtstagsfeier für einen seiner Söhne. Ohne vorherige Planung fuhr er mit seinem Sohn und den eingeladenen Kindern los, um ein paar Kaninchen zu kaufen. Dann ging er mit allen zum Swimmingpool der Villa und forderte sie auf, ihm nachzumachen, was er gleich tun würde. Er ergriff ein Kaninchen und drückte es unter Wasser, bis es ertrunken war. Einige Kinder erlitten einen Nervenzusammenbruch. Die Frau des Offiziers – eine Mutter – ließ das alles geschehen, obwohl sie sich hätte einmischen und der Brutalität ihres Mannes ein Ende setzen können.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass damals mit jedem ertrunkenen Kaninchen ein Mörder geboren wurde, für den Kinder nichts anderes als Kaninchen sind. Hannah Arendt beschäftigt sich in einem Text über Totalitarismus mit dem Begriff „Untermensch“, den Hitler als Bezeichnung für seine Gegner verwendete. Eine solche Kategorie machte es leichter, sie zu vernichten, denn sie waren danach ja keine Menschen.

Liebe Widad, ich teile Deine Befürchtung, dass wir diese Erinnerungen in uns tragen und einen Teil davon unvermeidlich an unsere Kinder weitergeben. Auf etwas andere Weise haben wir die begründete Angst unserer Eltern geerbt, denen es verwehrt war, ein ruhiges Leben zu führen, das nicht von tyrannischen Machthabern oder durch eine ungewisse Zukunft gestört wurde, die ihnen und uns Angst macht.

Dabei kommt mir in den Sinn, dass unser Leben in gewisser Hinsicht eine Übung darin ist, der Angst zu widerstehen – und das ist weniger eine Wahl, die wir treffen, als vielmehr Schicksal. Als Du zum Beispiel mit Deiner Familie vor den Auseinandersetzungen in Aleppo im Winter 2012 flohst, lebte ich in Damaskus in einem Stadtviertel, um das herum an drei Seiten Kampfhandlungen tobten. Oft schlugen die Granaten ganz in unserer Nähe ein und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Piloten aus geringer Höhe damals rebellische Wohngebiete bombardierten.

Trotz dieser Lage beschlossen Sawsan und ich 2012 zu heiraten und bald darauf Kinder zu bekommen. Wir wollten eine Tochter haben, und als der Ultraschall bestätigte, dass es ein Mädchen war, wählten wir für sie einen Namen aus. Wie können Menschen sich so verhalten, die nicht nur von einem zufälligen Tod bedroht sind, sondern auch davon, verhaftet und möglicherweise durch Folter getötet zu werden? Es klingt vielleicht verrückt, aber wenn ich jetzt meine Tochter Dafa vor mir sehe, sage ich mir, dass ihre Ankunft im Leben das einzig Vernünftige und Richtige war!

Natürlich war unser mutiger Entschluss, zu heiraten und Kinder zu bekommen, auch nicht frei von Angst. Dabei ist es vor allem die Mutter, die die größten Ängste hat, vor allem während der Schwangerschaft und in den ersten Monaten nach der Geburt. Meine Situation als zukünftiger Vater unter solch außergewöhnlichen Umständen aber bereitete mir noch zusätzliche Sorgen. Als Dafa noch im Bauch ihrer Mutter war, fragte ich mich oft, ob ich sie überhaupt kennenlernen oder ob sie als Waise aufwachsen würde, die ihrem Vater nie begegnet ist.

Ich überlegte auch, ob unsere Angst auf sie übergegangen war, als wir gerade die Arztpraxis verlassen hatten, die die Schwangerschaft betreute, und von der Straße in ein Bekleidungsgeschäft rannten, um uns vor einem Luftangriff zu verstecken. Würden diese Erinnerungen sie später beim Geräusch von Feuerwerk aufschrecken lassen?

Andererseits sprach und spielte ich manchmal mit ihr, als sie noch nicht geboren war, indem ich eine Hand dort auf den Bauch ihrer Mutter legte, wo sie sich gerade bewegte. Sie hörte dann auf, sich zu bewegen, und ich fragte mich, ob sie meine Botschaft verstanden hatte und wusste, dass sie einen Freund hatte, der auf sie wartete.

Anfangs nur aus Spaß benutzte ich für „Vaterschaft“ ein Wort, das es, wie Du weißt, im Hocharabischen gar nicht gibt, nämlich „Ububa“ anstelle von „Ubuwa“. Ich bildete einfach die Form von „Umuma“ nach, dem Wort für „Mutterschaft“. Wenn man die beiden Wörter in eine andere Sprache übersetzt, wird der Unterschied vielleicht nicht deutlich. Aber „Ububa“ ist für mich näher an dem Bild, das man in unseren Gesellschaften von der Mutter hat, die als zärtlich und fürsorglich gesehen wird, während der Vater als immer beschäftigt gilt, Fürsorge und Gefühle eher spärlich erkennen lässt und vielleicht mehr Härte zeigt.

Im Zusammenhang mit der gängigen Auffassung von Vaterschaft schrieb ich einmal, dass Dafa mich zu einem Vater mit dem Herzen einer Mutter gemacht hat. Vielleicht beantworte ich damit Deine Frage zum Unterschied zwischen „Umuma“ und „Ubuwa“. Ich bin wohl näher an „Ububa“, wie ich es Dir oben beschrieben habe. Und ich denke mir, dass immer mehr Männer und Frauen die herkömmlichen psychologischen und sozialen Unterschiede zwischen Vaterschaft und Mutterschaft zum Verschwinden bringen werden.

Liebe Widad, oben habe ich viel über unseren gemeinsamen Schmerz geschrieben. Damit habe ich es ein wenig hinausgezögert, über etwas Optimistischeres zu schreiben. Auch dazu will ich von einem konkreten Vorfall erzählen: In einem Gedicht, das ich im Sommer 2015 auf dem Festival Voix Vives in Sète in Frankreich vortrug, sprach ich von einer Mutter, die ihre Tochter an den Fingern hielt, während diese sich tanzend um sich selbst drehte. Ich schob gerade den Kinderwagen mit meiner kleinen Tochter vor mir her. Als sich unsere Blicke trafen, schien es mir, als sähe sie in mir die Vergangenheit, während ich in ihr die Zukunft sah. Wenige Jahre später würde Dafa mich am selben Ort vor dem Bahnhof anhalten, um auf die gleiche Weise zu tanzen!

In diesen Tagen übt Dafa auf ihrer Gitarre ein kurzes Musikstück ein, das sie in drei Wochen vor einem kleinen Publikum vorspielen wird. Sie ist auch wieder bei Theaterproben dabei und Ende Juni nahm sie mit einer Gruppe an einer Aufführung auf einem Festival für Kindertheatergruppen teil. In derselben Woche sang sie mit dem Chor zwei Lieder auf einer Veranstaltung. Auch zum Schwimmunterricht ist sie zurückgekehrt und hat schnell ihre Angst davor überwunden, aus einer größeren Höhe als zuvor ins Wasser zu springen, obwohl sie aus Angst vor den Sprüngen eigentlich mit dem Schwimmen aufhören wollte. Wenn ich sie zur Schule oder einer dieser Aktivitäten bringe, begrüßt sie unterwegs ihre Freunde und sie amüsieren sich über uns, ihre Eltern.

Damit will ich Folgendes sagen: Indem Dafa ihre Angst überwand, beendete sie auch einen Teil unserer Ängste. Ich habe über ihre Freizeitaktivitäten wie Theater und Musik geschrieben und erwähnt, wie sie sich ohne Angst vor Publikum präsentiert, weil das zu unserem Gespräch über die Ängste der Eltern passt. Ich rufe mir jetzt die Bilder des kleinen Mädchens wieder ins Gedächtnis, das aufgrund einer Blutung, hervorgerufen durch den Schock einer Explosion oder einer Granate, zu früh und zu klein geboren wurde. Danach wurde sie im Alter von neun Monaten aus ihrer kleinen Welt gerissen, als wir von Syrien nach Libanon und wenige Monate später nach Frankreich gingen, wo sie einer anderen Sprache begegnete, bevor sie noch ihre Muttersprache sprechen konnte. Nun wird sie bald ihre neunte Geburtstagskerze auspusten und ich begreife jetzt, dass die Wirklichkeit besser ist, als meine Befürchtungen es ahnen ließen, auch wenn sie nicht an unsere Träume heranreicht, aber das ist ja auch nicht anders zu erwarten.

Vielleicht ist die Erinnerung an die Angst kein unausweichliches Schicksal für unsere Kinder. Vielleicht gibt es noch eine andere, nicht weniger bedeutende Erinnerung, nämlich diejenige all dieser Kinder, wenn sie älter werden und uns Fragen über die Vergangenheit stellen und über jenes Land, das ihr Heimatland sein soll. Ich denke, dass sich hier zwei Dinge gegenüberstehen: der Kampf gegen die schmerzhafte Erinnerung und der Kampf gegen das Vergessen, das aus Gleichgültigkeit den Opfern gegenüber resultiert. Ich bin zuversichtlich, dass die Generation unserer Kinder beides auf eine Weise verbinden wird, die unsere Erwartungen übertrifft. Ich bin zuversichtlich, dass sie sich mit den Kompetenzen ihrer Generation und den technischen Möglichkeiten, bei denen sie uns um vieles voraus sind, der Herausforderung des hiesigen Rassismus stellen können.

Vielleicht spreche ich mit dieser Zuversicht aus der Zukunft zu Dir, liebe Widad, so wie ich damals auf diese Frau geschaut und in ihrer tanzenden Tochter die Zukunft meiner Tochter gesehen habe. Aus dieser Zukunft kann ich Deinen Sohn Max sehen, der so groß geworden ist, dass er Deine Finger halten kann, wenn Du Dich um Dich selbst drehst. Schließ die Augen und streif die Angst ab, damit Du siehst, was ich sehe, und lass Dein Herz mit ihm tanzen.

Alles Liebe

Omar

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