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(W)Ortwechseln > Mariam Al-Attar & Sabine Scholl > Die Erde ist groß, die Natur ist gnädig - Brief 2

Die Erde ist groß, die Natur ist gnädig – Brief 2

Mariam Al-Attar an Sabine Scholl, 05. Mai 2020

Übersetzung: Suleman Taufiq

Mariam Al-Attar, Sabine Scholl, Briefwechsel, Irak, (W)ortwechseln
© Noor Alden

Ich schreibe Dir und trage dabei Handschuhe

Während die Welt jetzt im Händewaschen vereint ist
wie Verbrecher, die sich von ihrer Tat reinigen wollen,
schreibe ich Dir und trage dabei Handschuhe.
Und weil in unserer Stadt Frauen nicht an die Flüsse treten dürfen,
werde ich den Aquarienfischen erzählen,
dass ich auf meinen Wegen Dichter traf, die Metren und Reime aus dem Müll sammelten.

Liebe Sabine,

die Überschrift über Deinem Brief hat mich überrascht, weil sie ein Zitat aus meinem Gedicht ist. Ich hatte das Gefühl, niemand könnte es wörtlich verstehen, bis ich in Deinem Brief las, „ich bin unverdaulich“. Es hat mir sehr gut gefallen, dass Du den Satz mit der Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf zusammengebracht hast. Bei uns nennen wir sie Layla, das „Mädchen mit dem roten Käppchen“. Layla!

In der Tat kann ich es kaum ertragen, nur ein Zeuge dessen zu sein, was hier vor sich geht.  Also habe ich mich für das Schreiben entschieden. Ich schreibe alles auf, was ich sehe, ich notiere Fakten, widerspreche poetischen Formen, damit ich nicht das Labyrinth von Fragen und Antworten betreten muss.

Ich sitze in meinem Zimmer und schreibe Dir. Seitdem man mich gebeten hat, Briefe zu schreiben, hänge ich Zettel für Dich an die Wand vor mir. Vielleicht, um mit Dir zu reden und Dir zu erzählen, dass die Ausgangssperre und das Verbot, das Haus zu verlassen, für mich ganz normal sind. Seit November letzten Jahres, schon vor dem Ausbruch des Virus, gehe ich nicht mehr aus dem Haus, und das aus mehreren Gründen, die ich Dir vielleicht später einmal erkläre. Ich höre, dass die Menschen draußen Schutzmasken und Handschuhe tragen, und ich denke, wie sicher wir wären, wenn das Tragen von Masken und Handschuhen uns vor Beleidigungen und Lügen schützen würde. Und mehr noch. Wir töten uns hier gegenseitig mit Waffen, die einen Schalldämpfer haben. Die Stimme des Virus im Gehirn unseres Mörders und die Information darüber werden nicht über unsere Grenzen hinausgelangen. Dieses Virus verursacht keine Symptome, und es bewegt sich ganz in unserer Nähe. Unsere Mörder tragen keinen Mundschutz, sondern eine schwarze Maske. Sie verbergen ihr Gesicht vor der Öffentlichkeit. Ich weiß nicht, was sich in diesen fanatischen Köpfen abspielt, während die Menschen in anderen Ländern sich gegenseitig beschützen.

Seit Monaten wird jedoch die Natur geschützt und gewinnt ihre Kräfte zurück. Ich habe gelesen, dass die Natur wieder zum Leben erwacht und sich erholt, weil die Menschen zu Hause bleiben. Vielleicht gab ihr das die nötige Ruhe, um wieder zu wachsen.

Ich hoffe, dass die kommenden Tage Dir mehr Erholung und Sicherheit geben. Dazu gehört auch, die Kinder wieder zu sehen. Das Wiedersehen mit deinen Lieben wird Dir hoffentlich helfen, wieder zu schreiben.

Du fragst mich nach meiner poetischen Arbeit. Ich rette mich durch Lesen. Die Welt der Bücher ist ein angenehmer Raum, und wenn ich jemanden zum Reden brauche, schreibe ich Gedichte. Oder ich übersetze Texte aus der persischen und afghanischen Literatur, um die arabischen Bibliotheken mit Texten aus anderen Kulturen zu bereichern, die mir beim Lesen gut gefallen haben.

Selten veröffentliche ich meine Texte auf Websites oder in Zeitungen. Ich bewahre sie auf, bis ich sie eines Tages in gedruckter Form herausbringen kann. Die Wahrheit ist, ich habe keine Freunde. Das Schreiben gibt mir das Gefühl, über Geheimnisse zu sprechen. Und manchmal schäme ich mich dafür und fürchte, zu viele Geheimnisse preiszugeben, die vielleicht niemanden interessieren und die nur ein subjektives Gefühl sind.

Früher, als die Situation „in Ordnung“ war, habe ich mehrere Jahre in Einrichtungen zum Schutz von Frauen gearbeitet. Das war eine intensive Erfahrung, die mir einen Einblick in die Realität dieser Frauen erlaubte.

Du hast mir von Dina Nayeri geschrieben. Ich kenne sie nicht, aber ich kenne ähnliche Frauen, die viel gekämpft haben, damit ihre Stimmen die Welt erreichen. Ich hoffe, dass sie ihren Roman zu Ende bringt. Die Wirklichkeiten in Romanen sind Lesern leicht zugänglich. Manchmal brauchen wir Jahre, um etwas zu begreifen, und viel Geduld und Kraft, bis das Gegenüber es auch versteht und aufhört, anderen etwas anzutun, besonders in Bezug auf das, wovon Dina spricht. Die Erde ist groß, die Natur ist gnädig. Die Flucht von einem Ort zum anderen muss nicht von Leid begleitet sein, denn letztlich sind wir alle Menschen. Hinter diesem Wort „Flucht“ stehen Erzählungen und Geschichten. Die Politik und die Kräfte außerhalb unserer Kontrolle begreifen das nicht. Sag Dina bitte, dass ich mit ihr fühle. Auch ich habe Erfahrungen mit geborgter Identität. Ich habe mein Tagebuch in zwei Sprachen geschrieben. Du wirst später mehr über diese Doppelsprachigkeit erfahren.

Pardon für die Länge.

Liebe Grüße

Mariam

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