Eine Schutzschicht liegt über der Wirklichkeit – Brief 3
Sabine Scholl an Mariam Al-Attar, 01. Juni 2020
Liebe Mariam,
ich danke Dir für Deinen berührenden Brief und den Hinweis auf Layla. In unserer Version des Märchens hat das Mädchen keinen Vornamen, sondern ist nur nach ihrer roten Kappe benannt.
Und stimmt, ich nehme beim Lesen Ausdrücke oft wörtlich, spiele mit ihren Bedeutungen und Klängen. Im Schreiben forme ich Sätze aus zerbrochenen Stücken, „Metren und Reime aus dem Müll“, so wie Du. Wir Autorinnen stellen ungewöhnliche Zusammenhänge her, während um uns herum viele damit beschäftigt sind, Verbindungen zu stören oder gefälschte Geschichten in den Vordergrund zu rücken.
Zurzeit ist es das Virus, das unsere Handlungsräume mitbestimmt. Du sprichst von seiner Stimme, was ich interessant finde, und ich stelle mir vor, wie sie klingt. Hier ist es umgekehrt: Das Schweigen und die Unsichtbarkeit dieses Erregers verunsichern die Menschen. Wir hören nicht, wenn das Virus sich nähert und uns beherrschen will. Um uns zu schützen, vollziehen wir ungewohnte Bewegungen und Gesten, vermeiden Berührungen. Wir werden pantomimischer, weil wir unser Gesicht nicht mehr als ganzes zeigen. Wenn wir die Masken tragen, werden wir selbst stummer. Wir müssen die Sprache der Augen, der Brauen, der Stirn erst lernen.
Aber je isolierter wir sind, desto klarer wird, dass wir andere Menschen brauchen. Sogar wenn wir nicht unmittelbar mit ihnen zu tun haben, beruhigt uns die Anwesenheit anderer.
Mittlerweile aber, es ist nun Anfang Juni, kann ich sagen: Es geht uns gut. Hier wird nicht geschossen. Es herrscht kein Krieg. Alle Familienmitglieder sind gesund. Wir gehen zum Arzt, holen uns zu essen, treffen Freundinnen und wandern durch die weitläufigen frischgrünen Parks in der Sonne. Sicherlich, überall sehen wir transparente oder stoffartige Bedeckungen, das Plastikvisier vorm Gesicht des Kellners, die Handschuhe der Kassiererin im Supermarkt, die Masken über Nase und Mund. Eine Schutzschicht liegt über der Wirklichkeit, durch die wir uns bewegen. So wie die hauchdünne Plastikfolie, die zum Frischhalten von Speisen dient, die sich allzu leicht verwickelt und verklebt und damit unbrauchbar wird. Die Linie zwischen Schutz und Gefangenschaft verschwimmt.
Freundinnen erzählen mir, dass sie beginnen ihr grau gewordenes Haar zu färben, damit sie nicht sofort als „Alte“ angesehen werden und damit diskriminiert, weil sie den Jüngeren ihr unbeschwertes Leben versauen.
In Deinem Brief schreibst Du von einem „Früher, als die Situation in Ordnung war“. Wie hast Du diese Veränderungen zum heutigen Zustand wahrgenommen? Entschuldige, wenn ich Dir mit dieser Frage zu nahe trete, aber ich möchte gern verstehen, möchte Dich besser sehen.
Du schreibst auch, dass Du in mehreren Sprachen schreibst, dass Du übersetzt, um die in anderen Sprachen verfassten Geschichten bekannt zu machen. Welche Geschichten sind das? Und wie kommt es, dass Du diese verschiedenen Sprachen beherrschst?
Wie der Zufall es will, arbeite ich gerade an einem Essay über Mehrsprachigkeit, weil ich durch die Aufenthalte in verschiedenen Ländern immer wieder Menschen getroffen habe, die mehrere Sprachen sprechen. Sogar meine Kinder sind mehrsprachig aufgewachsen. In dem Aufsatz bringe ich Beispiele wie Dina Nayeri, aber auch wie die türkisch-deutsche Autorin Kübra Gümüşay, die versucht zu zeigen, dass viele philosophische Texte, welche als allgemeingültig angesehen werden, nicht reflektieren, dass Sprachen und Identitäten vielfältig sein können.
Beim Lesen Deines Briefes habe ich auch daran gedacht, dass wir ja einen dritten Menschen im Bunde haben, der mitschreibt, indem er Deine Worte in meine Sprache bringt und meine in Deine. Diese feine Membran ist zwischen unsere Texte gespannt und schmiegt sich an sie, ähnlich dieser Plastikfolie, von der ich bereits gesprochen habe.
Keine Ahnung, warum die mir schon wieder einfällt. Vielleicht, weil sie eine praktische, aber auch schreckliche Erfindung ist. Und jetzt wickle ich die Quiche ein, die ich heute gebacken habe und allein nicht aufessen kann, in Erinnerung an gemeinsame Abende mit meinen Kindern. Womit wir wieder bei den Speisen wären.
Ich wünschte, wir könnten uns Gerüche und Geschmäcker schicken!
Pass auf Dich auf, bleib gesund!
So grüße ich meine Freundinnen jetzt immer, so grüße ich Dich,
Sabine