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(W)Ortwechseln > Mariam Al-Attar & Sabine Scholl > Wer unverdaulich ist, kann im Magen des Ungeheuers einiges anrichten - Brief 1

Wer unverdaulich ist, kann im Magen des Ungeheuers einiges anrichten – Brief 1

Sabine Scholl an Mariam Al-Attar, 26. März 2020

Übersetzung: Suleman Taufiq

(W)Ortwechseln, Sabine Scholl
© Sabine Scholl

Liebe Mariam,

ich sitze in meiner Wohnung und lese und schreibe. Entweder am Schreibtisch oder auf dem Balkon. Für eine Autorin eigentlich normal. Seit einiger Zeit jedoch kann ich gar nichts anderes tun. Denn es ist nicht mehr erlaubt, andere Menschen zu treffen, alle Geschäfte sind geschlossen. Zumindest Lebensmittel können wir kaufen. Keiner von uns hat bisher einen derartigen Stillstand erlebt. In unseren westlichen Gesellschaften war die Freiheit, sich zu bewegen, wohin wir wollen, bislang selbstverständlich.

Ich selbst habe das ausgiebig genutzt und nach meinem Studium in verschiedenen Ländern gelebt und gearbeitet. Immer hatte ich bereits das nächste Flugticket gebucht. Die Berliner Flughäfen kenne ich in- und auswendig. Nun laufe ich täglich von meiner Wohnung aus ins Grüne. Das dürfen wir noch. Rekreation ist erlaubt. Aber meine Tochter kann ich nicht sehen, weil ich nicht mit ihr zusammenwohne. Die Ansteckungsgefahr mit dem Corona-Virus wäre zu groß. Mein Sohn befindet sich in Frankreich, wo er studiert. Ein seltsames Gefühl. Eigentlich sollte ich ihn in den nächsten Tagen in Paris besuchen und dort auch ein Interview mit Dina Nayeri führen, deren Buch „Der undankbare Flüchtling“ ich noch vor der Kontaktsperre gelesen hatte. Aber die Grenzen nach Frankreich sind nun geschlossen, Air France fliegt nicht mehr.

Ich weiß nicht, ob Du Nayeri kennst. Sie ist 1988 mit ihrer Mutter aus dem Iran geflüchtet und über Dubai und Italien in die USA gelangt, wo sie studierte. Inzwischen lebt sie in Paris. Ihr neues Buch spricht über die psychischen Langzeitfolgen bei Exilierten, die ihr ursprüngliches Land verlassen mussten und versuchten, Halt in einer anderen, ihnen fremden und oft nicht sehr toleranten Gesellschaft zu finden. Ein Prozess, der im Grunde ein ganzes Leben andauert. Als Beispiel bringt sie die Frauen ihrer eigenen Familie, von denen jede eine andere Form der Bewältigung gefunden hat. Ihre Großmutter, die bereits früh nach England geflüchtet ist, hat alle Verbindungen zum Herkunftsort gekappt, nachdem ihr Ehemann ihr nicht ins Exil gefolgt ist. Sie will in nichts mehr erkennen lassen, dass sie je woanders war als in England. Hat sich in Kleidung, Sprache, Habitus völlig angepasst. Erfindet sich einen Geliebten, der sie einmal heiraten wird, um sie wieder komplett zu machen. Der aber nie kommt.

Ihre Mutter, die wegen ihrer Konversion zum Christentum im Iran Verfolgung fürchten musste, begibt sich in den USA in christliche Kreise, macht Gott zum Entscheider für ihre Lebenswege. Obwohl sie im Iran Ärztin gewesen war, gelingt es ihr nie mehr, diesen Status im Aufnahmeland zu erreichen. Trotzdem erzählt sie ihr Leben und ihre Rettung aus dem repressiven Iran als Folge von Wundern, ähnlich wie die Heiligenlegenden der katholischen Kirche. Nayeri selbst war ein Kind, als sie in die USA kam, und hatte dadurch Vorteile: akzentfreies amerikanisches Englisch, gute Schulausbildung, Studium an einer Eliteuniversität. Sie wollte mit aller Kraft von einem unwürdigen Status als Flüchtling loskommen. Dann aber bemerkt sie, dass sie dabei auch etwas verloren hat, und versucht zu begreifen, was es ist. Sie beschreibt sich ab nun als Mensch mit geborgter westlicher Identität und beginnt ihr Verhalten zu hinterfragen, indem sie ihrer eigenen Integrationsgeschichte und der anderer Geflüchteter nachforscht. Sie besucht sogar in Griechenland ein Ankunftslager für Geflüchtete, führt dort Gespräche, will eigentlich eine Reportage darüber schreiben, verfasst aber dann dieses Buch „Der undankbare Flüchtling“. Das Interview mit Dina Nayeri werde ich nun wahrscheinlich per E-Mail führen, denn es wird noch viele Wochen dauern, bis ich wieder reisen kann. Viele Wochen, in denen ich auch meinen Sohn vermissen werde.

Als ich Ende der Achtzigerjahre in Portugal und in den Neunzigern den USA lebte, hatte ich bereits begonnen, mich mit Migration zu beschäftigen. In Berlin wurden wir dann 2015 akut mit der Ankunft vieler aus Syrien geflüchteter Menschen konfrontiert. Aus dieser Situation sind viele spannende Initiativen entstanden, wie etwa „Weiter Schreiben“, das uns jetzt hilft miteinander zu kommunizieren.

Über Deine Lebens- und Arbeitsumstände weiß ich leider nichts. Da ich die arabische Sprache nicht beherrsche, kann ich nirgends nachforschen, um mehr zu erfahren. Ich würde mich deshalb freuen, wenn Du mir über Deinen Weg als Dichterin und Feministin erzählen könntest. In welchen Räumen Du Dich bewegst, über welche Kanäle Du kommunizierst. Ob Du Mitstreiterinnen hast, dort, wo Du bist. Wie Du publizieren kannst. Ob Du Deine Gedichte laut vorträgst. Ich möchte mir vorstellen können, wie es dort bei Dir jetzt aussieht.

Ich habe Deine Gedichte gelesen, die von Leila Chamaa ins Deutsche übersetzt wurden. Daraus konnte ich erkennen, dass auch für Dich die Verwandlung von existenziell schwierigen Situationen in Literatur ein wichtiges Instrument ist, sie mittels Sprache zu bewältigen. Dass Literatur helfen kann, dem Schreibenden sowieso und dem lesenden Menschen auch. Das ist für viele von uns in diesen Krisenzeiten eine wichtige Erkenntnis, eine Art Richtpfeiler, an dem wir uns in aller Ungewissheit festhalten können.

Ein Satz Deines Gedichtes „Biografie einer Dichterin“ hat mir besonders gefallen, und zwar „unverdaulich bin ich“. Einerseits mag ich Metaphern, die mit Speisen zu tun haben. Außerdem werden Kochen und Essen gerade in Exilsituationen oft als stabilisierendes Element beschrieben, weil sie Erinnerungen an eine verlorene Zugehörigkeit wachrufen. Andererseits schreibe ich gerade Texte für eine befreundete Komponistin, die an einer Oper mit Motiven aus dem alten europäischen Märchen „Rotkäppchen“ arbeitet. Ein Mädchen wird von der Mutter durch den Wald geschickt, um der kranken Großmutter Essen zu bringen, und trifft auf einen Wolf, der erst die alte Frau und schließlich auch das Mädchen verspeist. Mit diesem Kind, das eine rote Kappe trägt, habe ich mich als Mädchen stark identifiziert; meine Mutter nähte mir sogar ein Rotkäppchen-Kostüm, das ich stolz ausführte. Im Märchen erscheint das Mädchen als schutzlose Person, die von Männern verführt, verschlungen und wieder gerettet wird. Aber das ist eine Interpretation, die von männlichen Autoren erst im letzten Jahrhundert festgeschrieben wurde. Die Ursprünge reichen viel weiter zurück. Meine Freundin möchte in ihrer Oper dieser Figur eine machtvollere Rolle zuschreiben und dazu passt das Wort „unverdaulich“ sehr gut. Wenn das Mädchen schon von einem Wolf gefressen wird, dann kann sie doch im Magen des Ungeheuers einiges anrichten und ihn von innen her zerstören. „Unverdaulich“ gefällt mir, weil es darauf verweist, dass mit Frauen in patriarchalen Gesellschaften umgegangen wird, als wären sie Objekte, über die man leicht verfügt, die man sich so nebenbei einverleibt, wenn man Lust dazu hat. Was aber, wenn das vermeintliche Objekt ein Eigenleben hat, eigene Strategien, einen eigenen Willen? Das männliche Subjekt kann schlecht verdauen, wenn auch die Frau zum Subjekt wird.

Aber bitte, liebe Mariam, erzähle noch mehr von Dir. Woran arbeitest Du zurzeit?

Schöne Grüße! Schreiben wir weiter!

Deine Sabine

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