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Und jetzt? Was ist jetzt gegeben? Die Gegenwart? – Brief 13

Monika Rinck an Pegah Ahmadi, 29. März 2020

Blick aus dem Fenster von Monika Rinck in St. Louis, USA © Monika Rinck
„Die Begriffe von Innen und Außen geraten in Bewegung, neue Verbindungen stellen sich her, reale, aber auch paranoide“. St. Louis, USA © Monika Rinck

Liebe Pegah,

vielen Dank für Deinen Brief. Ich hoffe, es geht Dir gut. Als ich ihn las, war ich noch in St. Louis, inzwischen bin ich seit sechs Tagen wieder in Berlin. Ich bin also vorher abgereist, das war auch dem Department lieber – und musste einiges dafür organisieren. Ich bedauere es, denn eigentlich war ich gerne in St. Louis, aber es war wohl wirklich vernünftiger abzureisen, da ich die Studierenden ja sowieso nicht treffen darf und die ganze Universität und alle Bibliotheken gesperrt sind. Ich habe inzwischen zwei Mal per Videokonferenz unterrichtet, das erste Mal war ich sehr angespannt, beim zweiten Mal ging es schon deutlich besser.

Und die Studierenden haben mir in gewisser Weise ein Geschenk gemacht: Während ich mich in diesen Tagen überhaupt nicht konzentrieren konnte auf meine Arbeit und immer mit einem Fuß im Internet stand, konnte ich doch das Seminar vorbereiten. Dies war wie ein Schutzraum, in dem mit einem Mal die Konzentration wieder möglich war, die ich sonst den ganzen Tag über vermisste. Ich schicke den Studierenden jetzt meine ganze Vorbereitung am Anfang der Sitzung – es ist dann ein wenig wie ein Skript, das Improvisationen ermöglicht. Einmal schienen alle an ihren verschiedenen Orten in Gelächter auszubrechen, ein lachendes Oktett von Köpfen, nein, ein Nonett – ich bin ja auch mit dabei, wir sind neun. Das war das Allerschönste.

Wir sprechen auch über die Relevanz von Dichtung in diesen Momenten, es kommen sehr interessante Gedanken von den Studierenden, zum Beispiel fragte eine Studentin, ob der Begriff der Apokalypse, der ja im Kern Offenbarung und Enthüllung bedeutet, auch damit zu tun hat, dass man in solchen Momenten alles sehr deutlich sieht. Es wird also nicht nur eine geheime Botschaft über das Ende der Welt offenbart, sondern die Welt, die Menschen, die Gesellschaft offenbaren sich selbst. Jetzt sieht man klar. So dass offenbar wird, dass die sogenannten systemrelevanten Beschäftigungen eben die sind, die am schlechtesten bezahlt werden. Es zeigt sich die alte Klassenstruktur: Die Arbeiterklasse ist draußen, das Bürgertum im Homeoffice, und die Oberschicht zieht sich in ihre Ferienvillen zurück und versucht, ganze Inseln zu kaufen. Ja, das konnte man vorher wissen, jetzt zeigt es sich in aller wünschenswerten Deutlichkeit. Wie wird es nun weitergehen? Nachdem eingetroffen ist, was man sich vorher nicht hat vorstellen können – kann man der eigenen Vorstellungskraft dann noch trauen? Wird sie geschärft, genauer und klüger?

Ich habe schon in St. Louis begonnen ein sehr interessantes Buch zu lesen. Es heißt The Pandemic Perhaps, von Carlo Caduff. Es gibt auch eine deutsche Ausgabe davon, der deutsche Titel lautet: Warten auf die Pandemie. Ethnographie einer Katastrophe, die nie stattfand.

„Pandemic prophecy both looks forward to the future and back to the past. In fact, anticipations of the future and recollections of the past can become almost indistinguishable in prophetic discourse. It is a characteristic feature of such discourse that it disrupts our sense of time. Prophecy can address future events in the past tense, as if they had happened, and past events in the future tense, as if they are about to happen. This means that in prophecy ‚the past can refer to the future and the future to the past.‘“

Und an einer Stelle zitiert Carlo Caduff einen Satz von Blanchot: „’When speech becomes prophetic, it is not the future that is given, it is the present that is taken away.‘“ Prophetische Rede stellt keine Zukunft her, sondern beraubt uns der Gegenwart. Ja, ich bin sicher, dass wir von Blanchot in solchen Momenten viel lernen können.

Und jetzt? Was ist jetzt gegeben? Die Gegenwart? Keine Pläne mehr machen zu können. Zunächst empfand ich es beinahe als Erleichterung, dass meine Pläne keine Gültigkeit mehr hatten. Es war aber einfacher in den USA – und seit ich wieder zurück in Deutschland bin, bei meinen Gewohnheiten und Routinen, ist es nicht mehr so leicht.

Ich las kürzlich einen Text des Autors Ali Araghi im New Yorker, auf den mich ein Freund hingewiesen hat. Vielleicht kennst Du ihn ja sogar. Der Titel lautet: „Reckoning with an Uncertain Future in Iran, and Outside It“. Und das sind die ersten beiden Absätze: „My mother loves anecdotes, witty sayings, and little old tales that teach a life lesson. A favorite comes from her father, whom she loved dearly. The saying shows the imprint of a life lived in the Iranian countryside, under the rule of mercurial authorities: When you go to fill your water jugs, dip both in the stream at the same time. Otherwise, by the time one is filled, they might not let you use the stream anymore.

I came to America in late 2011, to study creative writing at Notre Dame, my teeth rattling in the Indiana cold. Soon after my arrival, something struck me: many of my fellow students, professors, and the staff at the library, where I worked, talked casually about their future plans. The future was certain and predictable to them. They used the present tense, without any hedging: ‚We’re going to Disneyland for Ellie’s birthday‘; ‚I’m doing an internship with Microsoft next fall.‘ It was as if they could see the future in a crystal ball. How could they be sure nothing would go wrong? How could they invest time and money in things so far from the present? The future I had known in my home country was unforeseeable, the path ahead zigzagging into areas I could not predict. I am not talking about the randomness intrinsic to life itself but about a man-made precarity, created and sustained by those in power.“ (https://www.newyorker.com/culture/personal-history/possible-futures-in-iran )

(Ich muss kurz erwähnen, dass die Abendsonne gerade sehr schön ist, ich höre Vogelgezwitscher und die Stimmen spielender Kinder. Ich war heute nur einmal kurz draußen, um Post in den Briefkasten zu werfen, es war ein schöner heller Tag.)

Heute kam meine Freundin O. vorbei, um mir meinen Zweitschlüssel zurückzugeben. Wir standen zwei Meter voneinander entfernt, hatten uns fast einen Monat nicht gesehen, da ich Ende Februar in die USA geflogen war. Sie hatte den Schlüssel in der Hand, ich ein Glas mit Oolong-Tee, den ich ihr mitgeben wollte. Wie tauschen wir das nun aus? Schließlich legte O. meine Schlüssel auf die gestapelten Stühle des geschlossenen italienischen Restaurants und ich nahm sie mir, deponierte dort den Tee, den sie sich nahm, und dann standen wir wieder in sicherer Entfernung voreinander. Oh, sagte sie, ich hab den Schlüssel nicht desinfiziert, vielleicht kannst Du ihn eine Woche in eine Plastiktüte tun, oder in kochendes Wasser legen. Und ich sagte, ich habe die Teedose nur außen berührt, den Tee direkt eingefüllt, vielleicht solltest Du die Dose zu Hause einseifen …? Ach je, was für ein Quatsch! Manchmal haben diese ungewohnten Maßnahmen fast Züge von sehr umständlichem Slapstick. Ich komme mir vor wie in einer neuen Welt, mit der ich die ganze Zeit kollidiere. Weltkontakt ist, wenn man wieder etwas falsch gemacht hat.

Und ja, es stimmt. Der eigene Körper muss gesund bleiben, um die anderen Körper nicht zu gefährden. Sorge um sich, Sorge um die anderen. Und ich erinnere mich daran, dass ich vor ein paar Tagen ganz plötzlich niesen musste. Ich war allein, saß am Computer und nieste – auf die Tastatur. O nein! Schnell wischte ich mit einem antibakteriellen Tuch darüber, bis mir auffiel, dass das, was aus meiner Nase kommt, ja bereits in mir drin ist. Schon wieder: So ein Quatsch. Ich desinfizierte eine Flasche Wein, von außen, wollte sie öffnen, dann fiel mir ein, dass ich meine Hände nicht gewaschen hatte, bevor ich die Flasche desinfizierte, also wusch ich meine Hände, desinfizierte die Flasche erneut – und trank die ganze Flasche alleine aus. Am nächsten Tag: ein ziemlich gut verdienter Kater. Wieder: Was für ein Quatsch!

Und ja, ich glaube, ich verstehe genau, was Du meinst, wenn Du fragst: „Was ist die Definition von dieser grenzenlosen Invasion, die sich uns so schrecklich öffnet? Ist es mein Verstand, der alles in Verbindung setzt, oder ist alles von absoluter Offenheit gefesselt?“ Es ist in gewisser Weise eine Öffnung, die sowohl aktiv wie passiv ist – „die sich uns so schrecklich öffnet“. Die Begriffe von Innen und Außen geraten in Bewegung, neue Verbindungen stellen sich her, reale, aber auch paranoide. Kennst Du das Buch von Juliana Spahr, es heißt: this connection of everyone with lungs? Es endet mit dem Satz: „how lovely and how doomed is this connection of everyone with lungs.“ Hier eine weitere Passage daraus:

as everyone with lungs breathes the space between the hands

and the space around the hands and the space of the room and

the space of the building that surrounds the room and the space

of the neighborhoods nearby and the space of the cities and the

space of the regions and the space of the nations and the space

of the continents and islands and the space of the oceans and the

space of the troposphere in and out

Charlotte Wiedemann, die das Buch über den Iran geschrieben hat, war kürzlich mit einem sehr guten Artikel in der taz – darin ging es auch um die Sprache, die Begriffe, die wir nutzen, um unsere Lage zu beschreiben: „Das Virus der Konformität“. Ich hänge ihn Dir an. Entschuldige bitte, dass ich so viel in diese Mail hineinpacke, aber ich komme mir vor, in den letzten Tagen, als sei ich angeschlossen an ein seltsames offenes Netz, das keinen Halt gibt. Angeschlossen oder eingeschlossen?

Aber Dein schöner Brief, merke ich gerade, holt mich immer wieder zurück, nämlich zurück zu Deinen Worten, Deinen Gedanken – ohne immerzu ins Internet zu den Nachrichtenseiten zu wechseln wie in den letzten Tagen. Ja, Humor hilft sicherlich, und es kommt mir manchmal wie eine Groteske vor, wenn ich wieder dastehe, meine Hände anschaue und mich frage, was ich nun wieder nicht richtig gemacht habe. Doch kann ich mir, von hier aus, Humor herbeiwünschen, angesichts der schrecklichen Bilder aus den überforderten Krankenhäusern und, schlimmer noch, aus den Flüchtlingslagern? Es ist ein sehr alter Ratschlag, ich glaube von Epiktet, sich zu fragen: Welche Dinge kann ich beeinflussen und welche nicht? Und diese Dinge voneinander zu unterscheiden, um sich den Dingen zu widmen, die man beeinflussen kann. Hm. Es gehört aber auch Zeitgenossenschaft dazu. Ja. Das Gedicht, das Du mir geschickt hast, von Bijan Elahi, gefällt mir sehr. Es traf mich ins Herz.

Ich hoffe, Deine Angst wird sich mildern. Als es mir heute morgen besser ging, dachte ich: Meine Gedanken sind immer noch die gleichen, aber der körperliche Raum, in dem sie sich bewegen, ist irgendwie beruhigt, es ist eine vor allem körperliche Beruhigung – trennen kann man Körper und Seele sowieso nicht und in Zeiten wie diesen liegt auch dies offen da.

Es kommen bessere Tage
Alles, alles Gute
Monika

Nächster Brief:

Meine Neugier liegt im Schatten - Brief 14

Pegah Ahmadi an Monika Rinck: Danke für Deinen Brief und die Informationen, die mit ihm kamen. Das Gedicht von Juliana Spahr hat mir sehr gut gefallen! Und die Teile von Blanchots Buch (The book to come) auch! Ja! Das ist eines meiner Lieblingsbücher. Danke für den Hinweis! Lesen

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