Meine Neugier liegt im Schatten – Brief 14
Pegah Ahmadi an Monika Rinck, 08. April 2020
Liebe Monika,
danke für Deinen Brief und die Informationen, die mit ihm kamen. Das Gedicht von Juliana Spahr hat mir sehr gut gefallen! Und die Teile von Blanchots Buch (The book to come) auch!
Ja! Das ist eines meiner Lieblingsbücher. Danke für den Hinweis!
Ich bin froh, dass Du wieder in Berlin bist. Ich denke, jeder Mensch fühlt sich in einer Notsituation in seinem eigenen Land sicherer, aber ich kann mir auch gut vorstellen, wie schwierig es war, dass Deine Reise in die USA in der aktuellen Corona-Situation stattgefunden hat. Es tut mir leid.
Ich fand die Zitate aus The Pandemic Perhaps sehr interessant. Danke, dass Du sie mit mir geteilt hast! Mir kommt es so vor, als ob die Konzentration auf Vergangenheit und Zukunft und das Vergessen des Hier und Jetzt der gemeinsame Punkt aller religiösen Haltung ist. Die Gegenwart erscheint dann als wehrlos, ohne Rätsel, ohne das Potenzial, etwas zu erraten, zu erinnern oder zu hoffen, ohne diese mysteriöse Unsichtbarkeit der nicht eintretenden Zukunft, aber sehr wohl mit der Kapazität ausgestattet, erschreckend zu sein und den Abgrund auszuleuchten.
Jetzt gerade, liebe Monika, aus diesem Winkel, aus dem ich schaue, verdunkeln sich zwei parallele Lichtlinien auf der schwarzen Metallplatte. Die kegelförmige Spitze der Kirche hebt die Ferne hervor. Dann ein großes Stück Himmel: vollständig, klar, breit. Fast jeden Tag habe ich dieses große Stück Himmel im Raum. Sogar doppelt, wenn es sich im Spiegel hinter mir reflektiert. Nach einem Monat bat ich endlich einen Freund, meinen Briefkasten zu öffnen und meine Briefe hinten an der Tür zu lassen. Jetzt habe ich sie alle auf den Balkon ins Sonnenlicht gestellt. Dein Brief ist da. Deine Worte sind unter der Sonne. Die Sonne scheint direkt auf sie, obwohl sie es nicht brauchen. Meine Neugier liegt im Schatten. Hier, im Raum.
Die Kirchenglocke läutet. Dang, Dang, Dang.
Die Hände, die sich bewegen mussten, um die Wörter zu finden
wurden gestoppt
Die Abstände sind vorgegeben
starke Etage
zitternde Etage
das Lineal
Sprache
Die Spitze des Kirchenkegels in der Ferne
Etwas, das den Himmel hervorhebt
Rettung von Umschlägen, aller Pakete, Handschuhe, in der Sonne
Der Schatten zweier paralleler Linien auf dem Metall
Zäune
Der Blick bleibt
Er wird wiederkommen
Zögert
Er geht wieder hinein
Hinaus, hinein, hinaus, hinein, hinaus, hinein, hinaus
Wo die persönlichen Räume nur dunkle Linien im Notizbuch sind
Angst
vor allem, das etwas anderes trägt
etwas anderes als es selbst.
Als aus der Lücke eines Buches
Wörter schneller als ein Virus oder Metronom
auf uns geworfen werden
Hände, die gehalten werden mussten, um die Worte zu finden
wurden gestoppt
Die Hölle der Zweideutigkeit und Verbindung
Hölle des Missverständnisses
Hölle des Versuchs, Missverständnisse zu beheben
Hölle des Erreichens
als die Antworten geplündert wurden
Nichts hat sich geändert
Nur die einst privaten Dinge
wurden an dunklere Orte verlegt
Körper
Träume
Erinnerungen
Vor Jahren
Jahre später
Nimmer
Und was noch?
Sogar dieses Stück Wolke zwischen meinen beiden Fingern während einer Pose
etwas von dem, das sich hinter mir versteckt
alle von was, das sich später enthüllen wird
und die Kadaver, die in die Leichenhalle übergehen
Die Körper vor der Verformung
Die Maske
Teile, die beängstigender sind
werden nicht verhüllt
Ich, die ich nach und nach die Umschläge öffne
Oh! hast du mir im Umschlag Blumensamen geschickt?
Es brachte mich zum Weinen.
* * *
P. S.: Liebe Monika, ich entdecke eins nach dem anderen: Die schönen Postkarten, das Buch von Farhad Showghi, Deine wundervolle Handschrift … Vielen Dank für alles!
Ich umarme Dich.
Pass auf Dich auf und bleib gesund.
Herzliche Grüße
Pegah