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(W)Ortwechseln > Pegah Ahmadi & Monika Rinck > Oder gleite ich in das angebotene Ich hinein - Brief 9

Oder gleite ich in das angebotene Ich hinein – Brief 9

Monika Rinck an Pegah Ahmadi, 07. Januar 2020

Ingar Krauss, Mäusebussard, 42 x 56 cm, Bromsilberpapier & Ölfarbe (2013)
Ingar Krauss, Mäusebussard, 42 x 56 cm, Bromsilberpapier & Ölfarbe (2013)

Liebe Pegah,

seit Wochen liegt Dein Brief ausgedruckt auf meinem Schreibtisch, schon Anfang Dezember war er ja da: und jetzt, das Neue Jahr, schon eine Woche vorbei. Ich wünsche Dir alles Gute! Hoffentlich werden wir uns in diesem Jahr bald treffen können. Entschuldige bitte, dass Du so lange auf eine Antwort warten musstest. Selbst ruhige Tage sind so schnell vorbei – wie sich das ändert mit dem Älterwerden, eine innere Raserei, in der auch leere Stunden sekundenschnell vergehen. Der Raum ist da, die Zeit ist der Vermieter. Aber stimmt das auch?

So viel ist schon in diesem noch jungen Jahr passiert. Ich verstehe viel zu wenig davon. Wie wird es im Iran, den Nachbarländern, den USA weitergehen nach dem Raketenangriff durch US-Drohnen? Welche gesellschaftlichen Kräfte werden dadurch gestärkt? Nach der Niederschlagung der Proteste im November. Ich habe nicht den Eindruck, dass Trump weiß, was er tut.

Über den Jahreswechsel las ich, Deinem Hinweis folgend, Gedichte von Ahmad Schamlu, es gibt einen Band, den Farhad Showghi übersetzt hat, in Persisch und Deutsch ist er bei Urs Engeler erschienen. Das Gedicht, aus dem Du zitierst: „Ich habe den Tod in ein Lied verwandelt“, ist nicht in dem Band zu finden. Er steht schon einige Zeit auf meinem Regal, aber ich hatte ihn schon länger nicht mehr in der Hand gehabt. Ich bin sehr froh, dass es diese Übersetzungen gibt.

Das Ich, das Du: erste und zweite Person, sobald ich zuhöre, bin ich die zweite Person; wenn ich spreche, werde ich zur ersten. Es ist ein stetiger Wechsel im Gespräch – und wenn beide Personen schweigen, ist für Momente unklar, wer die erste Person ist, wer die zweite. Ja, dies ist die stille Frage, die sich beim Lesen von Gedichten stellt, ohne dass man es immer merkt: Bin ich näher an der sprechenden Stimme oder werde ich angesprochen, als Leserin. Bin ich das Gegenüber oder gleite ich in das angebotene Ich hinein. Und wie schnell sich das ändern kann, wie unsicher und beweglich doch diese Positionen sind. Ja, genau, wie Du schreibst: Das Gedicht hält diese Fragen offen. Fontäne und Traum, Teich und Schwärze. Man muss es nicht entscheiden, und schon gar nicht für immer.

Da treffe ich bei Schamlu wieder auf die Raben, in dem Gedicht: „Noch denke ich an jenen Raben“ – und wieder klingt mir die Zeile von Silvana im Ohr: Die Raben, immerzu vergesse ich, dass sie existieren – außerhalb der Literatur. Es gibt wahrscheinlich nichts, das nur innerhalb der Literatur existiert – höchstens vielleicht in einem ungelesenen Buch. Aber auch das wurde vermutlich mindestens einmal gelesen, von der Person, die es schrieb.

Ich möchte Dir das Gedicht mit dem Raben abtippen, in der deutschen Übersetzung … die unwiderrufliche Gegenwart. Ich weiß nicht, ob ich es ganz verstehe, ob ich es richtig verstehe – aber auch das muss ich nicht festlegen, wenn ich Zeit mit dem Gedicht verbringen will.

Noch denke ich an jenen Raben ….

Noch

denke ich an jenen Raben über den Tälern von Jusch

Mit seiner schwarzen Schere

über dem gelbgebrannten Korn

und seinem doppelten Rauschen

schnitt er aus dem matten, papierenen Himmel

einen schiefen Bogen

und wenn er sich an den nahen Berg wandte

mit dem trockenen Krächzen seiner Kehle

sagte er etwas

das die Berge

              unduldsam

unter der gleißenden Sonne

später noch

              staunend wiederholten

in ihren steinernen Häuptern.

 

Manchmal frage ich mich

was hat ein Rabe noch zu sagen

mit seiner unwiderruflichen Gegenwart

wenn er

              zur Mittagszeit

eindringlich mit seiner Trauerfarbe

überm gelbgebrannten Korn die Flügel breitet

und hinüberzieht

über die Wipfel der Silberpappeln;

was hat er noch zu sagen

mit jenem wütenden Kreischen

gerade den greisen Bergen

                             in der Mittagsglut eines Sommertags  

dass diese schläfrigen Einsiedler

es einander noch lange

wiederholen?

September 1975

Der Hall, der wiederholte Schrei des Raben, die Hitze, die Mittagszeit. Der Schnitt in den Himmel, vielsagendes Krächzen, die Berge als schläfrige Einsiedler. Es gefällt mir sehr gut. Sicher habe ich noch gar nicht alles gefunden, was das Gedicht birgt, das ich in einer deutschen Übersetzung lese. Der Übersetzer hat mir ein Fenster auf das Gedicht geöffnet.

Draußen zwitschern die Vögel, aufgebracht, es sind Spatzen, sehe ich, als ich das Fenster öffne. Kalte, feuchte Luft, Schneeregen. Über mir verschieben die Nachbarn die Möbel.

Ja, diese Fotografie, der vertikale Flügel des Vogels. Ich habe sie noch vor Augen. Können Bilder etwas zusammenbringen, als seien sie eine Hilfe am Weg, den das Wort nehmen muss? Ja, wie soll man Identität denken, ohne die Zeit, in der man sich befindet, mitzudenken? Wie sich die Gedanken immer wieder ändern? Dass Angst und Mut gleichzeitig in derselben Person, in mir vorkommen. Und wie sich das immer wieder ändern kann.

Die Augen der Vergangenheit. Das Überdauern der vergangenen Augen. Auch die Bilder, die Gemälde, von denen man denkt, sie seien fertig – sie verändern sich mit den eigenen Erfahrungen. Plötzlich rufen sie andere Vorstellungen ins Leben. Das Starren, am Anfang. Den Blick nicht abwenden können. Und dann, wenn es glückt, dieses Starren in die offene Bewegung eines Gedichts bringen.

Jetzt will ich Dir den Brief endlich schicken. Obwohl mir die Gedanken immer noch hin und herfahren im Kopf. Aber das ist dann vielleicht etwas für die Briefe, die kommen.

Dir alles Gute, für die Tage, die kommen –

herzliche Grüße
Monika

Nächster Brief:

Der erste Schneetag - Brief 10

endlich schreibe ich Dir wieder. Es tut mir leid für diese lange Pause. Ich bin froh, dass ich Dir wieder schreiben kann. In Deinem letzten Brief hast Du mich nach der Situation im Iran gefragt. Nun, der Iran hat in den letzten drei Monaten sehr traurige Tage und Nächte erlebt. Lesen

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