Oder gleite ich in das angebotene Ich hinein – Brief 9
Monika Rinck an Pegah Ahmadi, 07. Januar 2020
Liebe Pegah,
seit Wochen liegt Dein Brief ausgedruckt auf meinem Schreibtisch, schon Anfang Dezember war er ja da: und jetzt, das Neue Jahr, schon eine Woche vorbei. Ich wünsche Dir alles Gute! Hoffentlich werden wir uns in diesem Jahr bald treffen können. Entschuldige bitte, dass Du so lange auf eine Antwort warten musstest. Selbst ruhige Tage sind so schnell vorbei – wie sich das ändert mit dem Älterwerden, eine innere Raserei, in der auch leere Stunden sekundenschnell vergehen. Der Raum ist da, die Zeit ist der Vermieter. Aber stimmt das auch?
So viel ist schon in diesem noch jungen Jahr passiert. Ich verstehe viel zu wenig davon. Wie wird es im Iran, den Nachbarländern, den USA weitergehen nach dem Raketenangriff durch US-Drohnen? Welche gesellschaftlichen Kräfte werden dadurch gestärkt? Nach der Niederschlagung der Proteste im November. Ich habe nicht den Eindruck, dass Trump weiß, was er tut.
Über den Jahreswechsel las ich, Deinem Hinweis folgend, Gedichte von Ahmad Schamlu, es gibt einen Band, den Farhad Showghi übersetzt hat, in Persisch und Deutsch ist er bei Urs Engeler erschienen. Das Gedicht, aus dem Du zitierst: „Ich habe den Tod in ein Lied verwandelt“, ist nicht in dem Band zu finden. Er steht schon einige Zeit auf meinem Regal, aber ich hatte ihn schon länger nicht mehr in der Hand gehabt. Ich bin sehr froh, dass es diese Übersetzungen gibt.
Das Ich, das Du: erste und zweite Person, sobald ich zuhöre, bin ich die zweite Person; wenn ich spreche, werde ich zur ersten. Es ist ein stetiger Wechsel im Gespräch – und wenn beide Personen schweigen, ist für Momente unklar, wer die erste Person ist, wer die zweite. Ja, dies ist die stille Frage, die sich beim Lesen von Gedichten stellt, ohne dass man es immer merkt: Bin ich näher an der sprechenden Stimme oder werde ich angesprochen, als Leserin. Bin ich das Gegenüber oder gleite ich in das angebotene Ich hinein. Und wie schnell sich das ändern kann, wie unsicher und beweglich doch diese Positionen sind. Ja, genau, wie Du schreibst: Das Gedicht hält diese Fragen offen. Fontäne und Traum, Teich und Schwärze. Man muss es nicht entscheiden, und schon gar nicht für immer.
Da treffe ich bei Schamlu wieder auf die Raben, in dem Gedicht: „Noch denke ich an jenen Raben“ – und wieder klingt mir die Zeile von Silvana im Ohr: Die Raben, immerzu vergesse ich, dass sie existieren – außerhalb der Literatur. Es gibt wahrscheinlich nichts, das nur innerhalb der Literatur existiert – höchstens vielleicht in einem ungelesenen Buch. Aber auch das wurde vermutlich mindestens einmal gelesen, von der Person, die es schrieb.
Ich möchte Dir das Gedicht mit dem Raben abtippen, in der deutschen Übersetzung … die unwiderrufliche Gegenwart. Ich weiß nicht, ob ich es ganz verstehe, ob ich es richtig verstehe – aber auch das muss ich nicht festlegen, wenn ich Zeit mit dem Gedicht verbringen will.
Noch denke ich an jenen Raben ….
Noch
denke ich an jenen Raben über den Tälern von Jusch
Mit seiner schwarzen Schere
über dem gelbgebrannten Korn
und seinem doppelten Rauschen
schnitt er aus dem matten, papierenen Himmel
einen schiefen Bogen
und wenn er sich an den nahen Berg wandte
mit dem trockenen Krächzen seiner Kehle
sagte er etwas
das die Berge
unduldsam
unter der gleißenden Sonne
später noch
staunend wiederholten
in ihren steinernen Häuptern.
Manchmal frage ich mich
was hat ein Rabe noch zu sagen
mit seiner unwiderruflichen Gegenwart
wenn er
zur Mittagszeit
eindringlich mit seiner Trauerfarbe
überm gelbgebrannten Korn die Flügel breitet
und hinüberzieht
über die Wipfel der Silberpappeln;
was hat er noch zu sagen
mit jenem wütenden Kreischen
gerade den greisen Bergen
in der Mittagsglut eines Sommertags
dass diese schläfrigen Einsiedler
es einander noch lange
wiederholen?
September 1975
Der Hall, der wiederholte Schrei des Raben, die Hitze, die Mittagszeit. Der Schnitt in den Himmel, vielsagendes Krächzen, die Berge als schläfrige Einsiedler. Es gefällt mir sehr gut. Sicher habe ich noch gar nicht alles gefunden, was das Gedicht birgt, das ich in einer deutschen Übersetzung lese. Der Übersetzer hat mir ein Fenster auf das Gedicht geöffnet.
Draußen zwitschern die Vögel, aufgebracht, es sind Spatzen, sehe ich, als ich das Fenster öffne. Kalte, feuchte Luft, Schneeregen. Über mir verschieben die Nachbarn die Möbel.
Ja, diese Fotografie, der vertikale Flügel des Vogels. Ich habe sie noch vor Augen. Können Bilder etwas zusammenbringen, als seien sie eine Hilfe am Weg, den das Wort nehmen muss? Ja, wie soll man Identität denken, ohne die Zeit, in der man sich befindet, mitzudenken? Wie sich die Gedanken immer wieder ändern? Dass Angst und Mut gleichzeitig in derselben Person, in mir vorkommen. Und wie sich das immer wieder ändern kann.
Die Augen der Vergangenheit. Das Überdauern der vergangenen Augen. Auch die Bilder, die Gemälde, von denen man denkt, sie seien fertig – sie verändern sich mit den eigenen Erfahrungen. Plötzlich rufen sie andere Vorstellungen ins Leben. Das Starren, am Anfang. Den Blick nicht abwenden können. Und dann, wenn es glückt, dieses Starren in die offene Bewegung eines Gedichts bringen.
Jetzt will ich Dir den Brief endlich schicken. Obwohl mir die Gedanken immer noch hin und herfahren im Kopf. Aber das ist dann vielleicht etwas für die Briefe, die kommen.
Dir alles Gute, für die Tage, die kommen –
herzliche Grüße
Monika