Der Pelikan als Imperialist – Brief 7
Monika Rinck an Pegah Ahmadi, 30. November 2019
Liebe Pegah,
vielen Dank für Deine Post. Ja, der Pelikan hat in der antiken Allegorie verschiedene seltsame Bedeutungen. So geht eine alte Legende: Der Physiologus erzählt vom Pelikan, dass er seine Kinder sehr liebt. Die heranwachsenden Kinder aber schlagen ihren Eltern ins Gesicht. Die Eltern schlagen zurück und töten sie. Später jedoch erbarmen sich die Eltern, und nachdem sie ihre toten Kinder drei Tage lang betrauert haben, kommt die Mutter, öffnet ihre Seite, träufelt ihr Blut auf die toten Leiber und erweckt sie. Die christliche Allegorese verband deswegen Christus mit dem Pelikan. Doch ganz geht die Übertragung der Fabel nicht auf. Was ist mit den mörderischen Eltern? Deshalb wird der Anfang gerne weggelassen – es bleibt dann nur die Passage, in der das Pelikanweibchen die Jungen mit ihrem eigenen Blut nährt, als Sinnbild für den Opfertod Christi. Das Menschenopfer, das gleichsam Gottesopfer ist, ist zentral für die christliche Religion. Ich glaube, viele Leute, die Weihnachten und Ostern feiern, machen sich nicht mehr bewusst, was es bedeutet, dass am höchsten christlichen Feiertag ein Gott für die Menschen stirbt.
Viele Hollywood-Filme brauchen ein Opfer, damit die Handlung überhaupt beginnen kann, damit sie sinnvoll wird. Die Gewalt hört nicht auf. Ein Jäger, der seinen Kehlsack mit Fischen füllt. Ich stelle mir die Zeichentrickfilme vor, von denen Du mir schreibst. Der Pelikan als Imperialist. Verschiedene Überzeugungen finden ihre Bilder.
Und Du hast Recht: Schreiben ist immer noch ein solches Wunder, das Gedanken und Erfahrungen offenlegt – und lesbar macht. Bei Veranstaltungen im Rahmen von „Weiter Schreiben“ denke ich oft: Hier sitzen die Menschen, die keinen Krieg erleben mussten, und daneben sitzen die Menschen, die den Krieg erleben mussten. Diejenigen, die aus Kriegsgebieten kommen, wissen, dass es beides gibt: Krieg und Frieden. Die anderen können sich den Krieg kaum vorstellen. Es ist aber wichtig, dass die anderen ihre Vorstellung schulen, auch wenn es schwer und bedrückend ist. Du schreibst sehr schön: „Wir nehmen uns auf diese Weise an die Hände. Jedes Gedicht, das jemand übersetzt, wird zum Vogel.“
Ich schicke Dir herzliche Grüße
und freue mich auf Deine Post.
Monika