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(W)Ortwechseln > Pegah Ahmadi & Monika Rinck > Ja, der Winter ist auch ein Ort – Brief 6

Ja, der Winter ist auch ein Ort – Brief 6

Monika Rinck an Pegah Ahmadi, 25. November 2019

„Mich hat der Blick des Mädchens immer fasziniert. Der schwarze Hintergrund, die Schwärze der Pupillen..“ Junges Mädchen mit einem toten Vogel, um 1500-25, flämisch, Brüssel, Museum für Schöne Künste. Foto: Almut Elhardt

Liebe Pegah,

Vielen Dank für Deine Post, für das schöne Gedicht und den Hinweis auf Attar. Ich werde die Konferenz der Vögel auf der nächsten Reise lesen.

Heute kaufte ich antiquarisch ein Buch, eine DDR-Ausgabe von Gedichten von Friederike Mayröcker. Volk & Welt, 1985 erschienen. Die Seiten hingen oben noch zusammen, ich war also die Erste, die es ganz durchblätterte. Nach 34 Jahren. Es ist eine sehr schöne Ausgabe. Das Jahr ohne Schnee ist der Titel. Und was für ein Zwitschern darin. Sehr viele Vögel.

Ein Gedicht beginnt:

Du verläszt eine mühevolle Vogelwelt
                                   und mehr als alles

liebe ich es gezogen worden zu sein
                                   von deiner Hand …

(Statt ß schreibt Mayröcker sz)


 

Ein anderes heißt „Winter-Nachtigall“. Es ist sehr schön, und in dem Buch ist auch ein kurzer Aufsatz zu lesen, von Ernst Jandl, eben über dieses Gedicht: „Winter-Nachtigall“.

(Ernst Jandl + Friederike Mayröcker waren sehr lange ein Paar)

(„Winter-Nachtigall“)

O! Die ganze Herde; die Hufe; die Hilferufe;
Die Hingabe der Sterne

So beginnt es (ich lasse 2 Strophen aus)

In der Mitte

( ..“eine Winter-Nachtigall in deinem Herzen ..“
      „eine Rose in meiner Hand ..“
         „in Stern in deiner Brust ..“
             „ein Kind an meinen Augen ..“
              “was schön ist ..“)

eine Dämmer-Schere; ein Schwan; eine Kälte;
   Zwinger; Gerüstwerk; Freigebigkeit aus Verzweiflung;
      Kalkgeäder; Verkettung; verlorene Frost-Hunde am Halfter;
         versteinte Züge; Angstwalze; Dampf;
           Hände übers Gesicht geschlagen;
              unter Lächeln in Sekunden verschneit

          so hingestreckt in Trauer:

         („blühende Asche –“)

Ernst Jandl erklärt es für eine Schulfunksendung und sagt zunächst, wie es heißt:

„Das Gedicht heißt:
(„Winternachtigall“)“. Und dann

„Jetzt weiß ich, wie ich es benennen kann („Winter-Nachtigall“). Jetzt will ich es kennen.“

-.-.-.-.-.

Eigentlich verlässt die Nachtigall im Winter die nördlichen Regionen. „Winter ist die Zeit und die Region, des Frostes“, schreibt Jandl. [„Die Nachtigall ist ein Zugvogel, der für diese Zeit diese Region verlässt.“] Und es leuchtet ihm ein, dass der kalte Winter nicht nur eine Zeit ist, sondern auch ein ORT. Vielleicht sogar vor allem ein Ort.


Der Anfang des Gedichtes:

„O! Die ganze Herde; die Hufe; die Hilferufe“ klingt für Ernst Jandl wie ein erschreckender Traum. Er fährt fort: „Es beginnt ein erschreckender Traum, aber dann wird alles ganz ruhig. Etwas ist in einem schrecklichen Abgrund versunken. Aber dann sehe ich den Himmel mit Sternen, und die Sterne gehören mir.“

Die Erläuterungen von Ernst Jandl, [die noch zweieinhalb Seiten weitergehen] schließen mit folgender Aufforderung „und jetzt Friederike, lies bitte dein Gedicht“.

(11.5.1975)

1975 im Mai war ich gerade sechs Jahre alt geworden. Im Jahr 1975 kann mir nichts mehr passieren. Ich schreibe dies am 25. November 2019, einem trüben Novembertag. Vom Fenster aus sehe ich zwei Männer auf einem flachen Dach. Einer geht bis zur Kante und untersucht den Rand. Jetzt stehen sie nachdenklich und voneinander abgewandt auf dem Dach und sinnieren. Gestern waren hier Elstern. Jetzt sind Menschen die einzigen Lebewesen, die ich sehen kann. Ich denke an die WINTER NACHTIGALLEN und an den Zufall, der dazu führte, dass ich das Buch gefunden und gelesen habe.

Ja, der Winter ist auch ein Ort. Heute Abend werde ich in ein Flugzeug steigen und zurück nach Berlin fliegen. Kondensstreifen am Himmel. Auch ich hindere Vögel daran, in einem friedlichen Himmel zu wohnen. Wohnen im Flug. Ich lege noch zwei eher beunruhigende Postkarten dazu. Das Mädchen, ein Bild aus dem 16. Jahrhundert, über das sehr wenig bekannt ist. Mich hat der Blick des Mädchens immer fasziniert. Der schwarze Hintergrund, die Schwärze der Pupillen, als würde die Dunkelheit des Hintergrundes in den Augen des Mädchens sichtbar. Der kleine Vogel, der kein Spielzeug ist und niemals eines war. Erstaunen und Trostlosigkeit. Oder vielleicht auch ein Hauch Verwunderung? Oder ein noch nicht ganz realisierter Schreck? Die Farben, der bläuliche Schatten auf der Stirn des Mädchens, auch am Kleid, auf den Schultern des Mädchens, auch dies ein Blau, das sich in den Augen des Mädchens wiederfindet. Auch auf den Federn am Hals des kleinen Vogels. Am hellsten scheint das Licht auf die Falten des Kleides an den Armen. Und das alles vor einem undurchdringlichen schwarzen Hintergrund.

Daneben habe ich eine Fotografie gelegt. Sie zeigt einen (vermutlich toten, zumindest betäubten) Mäusebussard. Ein viel größerer Vogel, ein Raubvogel. Man unterscheidet Singvögel von Raubvögeln. Als würden Raubvögel nicht singen. Sie krächzen nur, schreien. Aber stimmt das auch? Nachtigallen, lese ich, ernähren sich von Insekten und ihren Larven, manchmal auch von Spinnen und anderen wirbellosen Tieren. Allerdings sei die Amsel die begabtere Komponistin, schreiben Ornithologen, insbesondere ihr Abendgesang sei sehr melodiös und komplex. Ich betrachte die Federn des Mäusebussards. Nature morte. Es ist sehr still. Ein paar Kinderstimmen draußen. Und ich lese nochmals Dein Gedicht, das mit den Zeilen endet:

Ich kehre zurück
mit dem Lächeln, das ohne Antwort geblieben ist.

Ich bin beeindruckt von Deinem Gedicht und freue mich auf Deine Antwort. Willst Du mir berichten, wie es entstanden ist?

Mit vielen Grüßen nach Köln

Monika

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