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Wenn die Fluglinien zu den Vögeln gehören – Brief 2

Monika Rinck an Pegah Ahmadi, 02. November 2019

Treppenhausfenster. Foto: Monika Rinck
„Niemand hat an der Fensterfront schwarze Aufkleber in Vogelform angebracht…“. Foto: Monika Rinck

Liebe Pegah,

ich sitze am Flughafen in Frankfurt und schaue rechterhand auf eine große Glasscheibe. Durch sie hindurch sehe ich Flugzeuge, Busse, Anhänger, Gangways, Versorgungsfahrzeuge, ein gerade landendes Flugzeug, die Container der Caterer, viele Baukräne, einen Streifen Wald, die Wolkenfelder am Himmel, aber ich sehe keinen einzigen Vogel.

Niemand hat an der Fensterfront schwarze Aufkleber in Vogelform angebracht, die echte Vögel daran hindern sollen, gegen die Scheiben zu fliegen. Vielleicht weil die Scheiben von Stahlrahmen gerastert sind oder weil es an Flughäfen keine Vögel geben darf, da Vögel eine Gefahr für den Luftverkehr darstellen. Seltsam, würde man nicht eher denken, dass der Luftverkehr eine Gefahr für die Vögel ist?

Ich denke an den Blick aus meiner Berliner Wohnung. Ich schaue durch alle Fenster auf das Dach einer Remise und auf zwei Bäume. Es gibt so erstaunlich viele Vögel in diesem Hinterhof. Sperlinge, Meisen, einen Grünspecht, Elstern, Krähen, Eichelhäher mit ihren blauen Federn – und es gibt auch Ringeltauben. Gilt deine Phobie auch Ringeltauben? Sie sehen etwas edler aus und sind in Berlin nicht so verbreitet. Sie gurren lieblich.

Erst war es nur eine Ringeltaube, aus irgendwelchen Gründen hielt ich diesen Vogel für einen Täuberich. Er war sehr lange allein, monatelang. Er schien zu warten und tat mir etwas leid. Dann waren es zwei Ringeltauben. Sie saßen nebeneinander auf einem Ast, pickten gemeinsam am Moos auf dem Dach herum, hüpften von Zweig zu Zweig und wippten, plusterten sich auf, fast kreisrund, flatterten gemeinsam davon. Das schien ihnen wirklich Freude zu machen. Auch ich freute mich daran. Vor kurzem waren es drei ausgewachsene Tauben. Waren es noch dieselben? Ich war einige Wochen nicht zu Hause gewesen, aber vielleicht wäre ich ebensowenig in der Lage gewesen, sie auseinanderzuhalten, wenn ich sie pausenlos beobachtet hätte.

Die Fluglinien der Tauben, wenn man sie sehen könnte! O, eben ging ein sehr stark parfümierter Mann an mir vorbei. Damit hat er seinen Radius stark vergrößert, der Duft kündigt ihn schon an, bevor er da ist, und bleibt, nachdem er längst wieder fort ist. Ich kann mir vorstellen, dass die Fluglinien der Vögel die Vögel enorm vergrößern. Wenn die Fluglinien zu den Vögeln gehören, dann handelt es sich um sehr große Lebewesen.

Wieder landet ein Flugzeug. Die Sonne kommt heraus und beleuchtet die dunklen Wolken von links hinten, sie wärmt meine rechte Schulter. Die Leute um mich herum sind freundlich, sprechen gedämpft, eine virtuose Mischung aus Türkisch und Deutsch.

Die Schwärze der Raben, ihr Glanz, ihr Hüpfen. Ich muss an einige Zeilen aus einem Gedicht der argentinischen Dichterin Silvana Franzetti denken:

Oder die Raben, noch immer vergesse ich, dass sie existieren –
außerhalb von Literatur. Ich könnte diesen
nicht mit jenem Raben in Verbindung bringen.

Immer wieder fallen sie mir ein. Das, was es innerhalb der Literatur gibt, und das, was es außerhalb der Literatur gibt – und die Raben, die beide Bereiche verbinden. Wenn man es nicht vergisst. Wahrscheinlich kann sich der Rabe von Poe mit dem Raben von Franzetti in Verbindung bringen. Auch das könnte eine unsichtbare Fluglinie sein.

O, es kommt Bewegung auf. Ich muss einsteigen.

Ich freue mich von Dir zu hören!

Viele herzliche Grüße
Monika

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