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(W)Ortwechseln > Pegah Ahmadi & Monika Rinck > Papiervögel, die an tausend Fäden hängen – Brief 1

Papiervögel, die an tausend Fäden hängen – Brief 1

Pegah Ahmadi an Monika Rinck, 25. Oktober 2019

Der Kranich bleibt wach dank dem Stein in seiner Kralle. Ausschnitt aus dem „Bilderhimmel“ der Wallfahrtskirche in Hergiswald. Bild: Wiese Verlag, Basel und Dieter Bitterli

Liebe Monika,

wie schön, dass die Tiere zu der Brücke werden, über die wir uns schreiben. Jetzt, da ich Dir schreibe, starrt mich etwas an. Jeden Tag sitzt die Taube am schärfsten Winkel meines Balkons. Sie bewegt ihren Hals sehr schnell in verschiedene Richtungen. Dann starrt sie mich ein paar Minuten lang an. Oh, Du kannst dir nicht vorstellen, wie stark meine Taubenphobie ist und wie groß das Paradox: Sie zu mögen und sie nicht zu mögen!

Die Taube ist da wie ein Fleck im Himmel. Der Himmel setzt die Taube fort. Ihre Farben vermischen sich. So wird es schwierig, die Taube noch zu erkennen. Aus der Ferne verwandelt sie sich in einen Punkt. Nur ein Punkt. Es gibt aber auch eine Linie. Die Linie, die die Taube an der Kante des Balkons hinterlassen hat. Wohin führt sie und wie heißt der leere Ort, der zurückgeblieben ist? Die leeren Orte erinnern uns an etwas. Irgendwo wird es leer, wenn wir uns an etwas erinnern. Ein leerer Raum, ein leerer Koffer, eine leere Seite. Dann verbinden wir die leeren Punkte miteinander, um etwas zu schreiben. Vielleicht ist Schreiben der Ort, an dem die Vögel, diese große Anzahl von Vögeln, sich finden oder verlieren. Oder das Schreiben ist die geschriebene, seltsame Linie von verlorenen Vögeln.

Nun ist die Taube nicht mehr da. Dafür zeigt sich im Himmel ein Bogen, der von dicken Kondensstreifen unterbrochen wird; von schnellen, nervösen, hastigen, drohenden Linien. Die Linien sehen aus wie eine Signatur. Es ist eines meiner Spiele, das neblige Fenster mit meiner Fingerspitze zu signieren. Im Kreis. Einmal sah ich in diesem Kreis hinten am Fenster einen Nachtfalter. Es war Winter. Er war gefroren und klebte mit starren Augen am Fenster. Der Nachtfalter war tot.

Mir erscheinen die Tiere so ungeschützt. Hier auf dem Balkon sehe ich manchmal auch einen Raben. Seine Rufe klingen wie eine Klinge, die die Luft kratzt. Raben sind reine Dunkelheit, Volumen von Tinte. Jedes Mal, wenn ich an Raben denke, erinnere ich mich an Edgar Allan Poes Gedicht: „Aber der Rabe verführt immer noch meine traurige Fantasie zum Lächeln …“

Manchmal sehe ich von weit her, wie sich die Vögel wie Sandkörner am Himmel ausbreiten. Ich folge ihren kollektiven Formen. Dann zerstreuen sie sich plötzlich. Jeder fliegt in eine andere Richtung. Wie in der Diaspora. Die zerstreuten Menschen sind schwebende Atome, Papiervögel, die an tausend Fäden hängen. Lautlose Fäden, die als Windspiele in der Luft schwingen und schaukeln. Aber einige Dinge kommen in diesen Bewegungen zu Wort. Einige Dinge, in denen die Sprache der Treffpunkt aller Vögel sein wird.

Ich freue mich sehr auf Deine Antwort!

Herzliche Grüße

Pegah

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