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(W)Ortwechseln > Osama Al-Dhari und Joachim Sartorius > Die Macht der Poesie - Brief 7

Die Macht der Poesie – Brief 7

Joachim Sartorius an Osama Al-Dhari, 08. Dezember 2020

Übersetzung: Filip Kaźmierczak

Joachim Sartorius mit Hans Till im Gespräch auf der Straße. © Maritta Iseler
Joachim Sartorius (links) im Gespräch mit Hans Till (rechts)  © Maritta Iseler

 

Lieber Osama,

dieses merkwürdige, bittere Jahr neigt sich dem Ende zu. Ich würde mir wünschen, dass auch die Pandemie ein Ende nimmt. Aus egoistischen Gründen: Wir könnten uns wieder freier bewegen. Wir könnten uns endlich treffen. Im Frühjahr? In Berlin? Dann wäre es auch leichter, unseren Briefwechsel fortzusetzen, weil unsere Worte sich endlich auf persönliche Eindrücke beziehen könnten. Eines verspreche ich Dir: Für den Fall, dass Du nach Berlin kommst, werde ich Dir die Stadt so zeigen, dass Du nicht enttäuscht sein wirst. April, Mai – das sind die besten Monate. Die Stadt ist dann sehr grün. Noch grüner als die Wiesen von Langenbroich.

Gut, dass Du mir Näheres über Dein Buchprojekt mitgeteilt hast. Als Du das erste Mal „Ehre des Gedächtnisses“ erwähntest, hatte ich die Befürchtung, dass Du einen eher abstrakten Essay im Kopf hast, über Gedächtnis und Verlust von Gedächtnis und über das Erinnern, das vom Vergessen bleibt. Aber nun sehe ich, dass es Dir ganz konkret um die Bewahrung der Erwartungen, Wünsche, Enttäuschungen Deiner Generation geht, damit der Graben zur folgenden Generation nicht zu groß wird.

Und noch ein Wort zur Literaturkritik. Wenn ich Dich richtig verstehe, stellst Du die Frage: Ist sie auf der Höhe der besten Lyrik, die zu ihrer Zeit geschrieben wird? Oder fehlen ihr die Kriterien, das Kühne, das wirklich „Neue“ wahrzunehmen? Steht sie so unter Zwängen, dass sie gar nicht „frei“ urteilen kann? Dazu zunächst eine Binsenweisheit: ‚Die‘ Kritik gibt es gar nicht. Es sind immer einzelne Kritiker, mit einer jeweils sehr spezifischen Sozialisation und sehr partikularen Interessen bzw. Kenntnissen. Da kann dann alles passieren: von der Lobpreisung bis zur Vernichtung. Meine Hoffnung ist, dass sich – auch wenn die Rezeption eine wichtige Filterfunktion hat – letztlich gute Poesie durchsetzt. Nicht die Macht des Kritikers, sondern die Macht der Poesie wird triumphieren.

Mit dieser Hoffnung möchte ich diesen Brief schließen und Dir und Deiner Familie alles Gute wünschen, und, wie man jetzt sagt: Bleibt negativ!

Sehr herzlich grüßt

Joachim

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