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(W)Ortwechseln > Osama Al-Dhari und Joachim Sartorius > In einem Baumhaus leben und sterben - Brief 6

In einem Baumhaus leben und sterben – Brief 6

Osama Al-Dhari an Joachim Sartorius, 16. November 2020

Übersetzung: Jessica Siepelmeyer

 

WOrtwechseln, Osama Al Dhari, Joachim Sartorius
© Osama Al Dhari

Lieber Joachim,

 

in der Tat, Corona hat unsere Hoffnung zunichte gemacht, wir sind quasi Geiseln in den Händen dieses verdammten Virus. Gerne würde ich Berlin besuchen, aber zuerst hat mich die Stadt mit faulen Ausreden abgespeist und dann fegte das Virus über die Welt.

Ich war schon in den entlegensten Ecken der Welt, aber noch nicht in Berlin. Hoffentlich hält die Stadt eine bessere Zeit für mich bereit.

Als ich erfuhr, dass Edward Said zu Gast bei Dir war, fragte ich mich unweigerlich, warum ich nicht das Glück hatte, zu jener Zeit dabei gewesen zu sein. Die Art, wie er sich als echter Aufklärer und Intellektueller präsentierte, hat sich für immer in meine Seele gebrannt.

Auch wenn ich Adonis in vielem widerspreche, kann ich seiner Aussage, Poesie könne den Leser verändern, nur zustimmen. Allerdings muss dieser Leser gefunden oder geschaffen werden, indem wir mehr schreiben. Lyrik bewahrt die Vergangenheit vor dem Vergessen, davon bin ich überzeugt.

Vielen Dank für Dein Interesse an dem Buch, das ich gerade schreibe. Das bedeutet mir sehr viel. „Ehre des Gedächtnisses”, noch im Entstehungsprozess, ist inspiriert von der faszinierenden Landschaft hier. Sie ähnelt ansatzweise der des Jemen, die ich jedoch nicht gebührend genossen habe. Im Heinrich-Böll-Haus lebe ich mittlerweile seit drei Jahren, bald sind es vier. Vermutlich hat nicht einmal Heinrich Böll so viel Zeit auf seinem Landsitz verbracht. Ob ich das Haus belagern wolle, spotten schon einige Freunde. Für mich ist es ein glücklicher Umstand, den ich den großzügigen Mitarbeitenden der Heinrich-Böll-Stiftung verdanke. Schon immer träumte ich davon, in einem Baumhaus zu leben und zu sterben, eins zu werden mit Wald und Natur.

Das Buch wird romanhaft erzählt. Es handelt von Sex, Religion und Tradition – Themen, mit denen sich meine Generation auseinandersetzte. Eine Generation, die mit Tabu und Verzicht aufwuchs, sich dann dem Leben öffnete, durch Lesen anderes kennenlernte, dieses jedoch nicht praktisch ausprobieren konnte. Bestimmt von den Erwartungen des Umfeldes konnte sie nicht eigene Konzepte umsetzen. Das vertiefte den Graben zwischen einer gesamten Generation und ihrer kulturellen Identität. Daher muss das Gedächtnis bewahrt werden, damit diese Zeit nicht in Vergessenheit gerät, sondern an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Ich suche die Gelegenheit, mich dem Buch vollständig zu widmen.

Ich habe mich damit befasst, was der modernen arabischen Poesie von der westlichen Lyrik vorgeworfen wird, Ähnliches bemängelt die arabische Literaturkritik. Abu Tammam, Abu Nuwas und Al-Mutanabbi[1] führten in den Augen der Kritiker ihrer Zeit einen Wortgebrauch und Bilder ein, die den poetischen Maßstäben nicht entsprachen. Was Du schreibst, wirft in mir eine Frage auf, die ich mir selbst immer wieder stelle, wobei ich mir angewöhnt habe, mich niemals auf klare Antworten zu berufen. Basiert Literaturkritik angesichts festgelegter Kriterien, Definitionen und all der Aufsätze und Studien etc. noch auf subjektiven Eindrücken? Ich weiß es wirklich nicht. Als wir an der Uni das Gedicht „Das wüste Land” von T. S. Eliot interpretierten, ließen sich die Studenten über die Oberflächlichkeit westlicher Poesie aus. Sie beschreibe und schildere lediglich, es mangele ihr an Metrik und lyrischer Lebendigkeit. Ich versuchte zu erklären, dass die Geringschätzung und der Vergleich ungerechtfertigt seien, denn Anschauung, Kultur und Sprache unterschieden sich. Darüber hinaus handele es sich um eine Übersetzung. Die vorgebrachten Ansichten beruhten nicht auf Argumenten oder Beweisen, vielmehr auf dem ersten Eindruck, den manche Studenten als Urteil abgaben. Es schien, als herrsche Feindseligkeit und Konkurrenz zwischen zwei Kulturen.

Angesichts der Erfahrungen und Bedingungen in der arabischen Welt nehmen Politik, Krieg und Widerstand viel Raum in unserem Gedächtnis und unserer Gegenwart ein. Von den Ereignissen, Veränderungen und Umbrüchen ist die Poesie nicht losgelöst. Diktatoren beherrschten die Zeit, schickten ganze Bevölkerungen ins Grab oder ins Exil, erhoben die vielen Verluste in unserem Leben zum einzigen Gewinner. So wurden wir zur Leiche der Erinnerungen, zersetzten uns in eigenartiger Entfremdung. Endlos kann man über diese Themen sprechen. In dieser schwierigen Zeit müssen wir uns einen Funken Hoffnung bewahren.

Ich freue mich auf das Ende von Corona, so dass wir uns endlich treffen können. Dir und den Deinen wünsche ich alles Gute.

 

Viele Grüße

Osama Al-Dhari

 

 

 

[1] Die Autoren lebten zwischen dem 8. und dem 10. Jahrhundert u. Z.

 

 

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