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(W)Ortwechseln > Osama Al-Dhari und Joachim Sartorius > Ich bin gespannt, wie Du das siehst - Brief 5

Ich bin gespannt, wie Du das siehst – Brief 5

Joachim Sartorius an Osama Al-Dhari, 16. Oktober 2020

Übersetzung: Filip Kaźmierczak

Bild einer alten Fähre im Hafen von Dubai © Joachim Sartorius
Alte Fähre im Hafen von Dubai © Joachim Sartorius

Lieber Osama,

ich hatte gehofft, Dir mündlich Dank sagen zu können für Deinen Brief vom Juli. Und beide hatten wir uns gewünscht, es würde endlich zu einer Begegnung und zu einer gemeinsamen Lesung in diesem Herbst kommen. Nun hat die wieder erstarkte Pandemie einen Strich durch alle unsere Hoffnungen gemacht.

Dein Brief schneidet viele Themen an. Wo soll ich beginnen? Vielleicht bei Edward Said. Die von Dir gewählten Zitate aus seinem Text über das Exil treffen den Kern des Problems. „Ein Zustand des absoluten Verlusts“ – knapper und präziser kann man es gar nicht sagen. Ich schätze mich glücklich, dass ich Edward Said persönlich kennenlernen konnte. Ich hatte ihn nach Berlin eingeladen, es war im Jahr 2001, um hier in einem Theater über die palästinensische Frage zu reden. Zu seinen Ehren gaben meine Frau und ich auch ein Abendessen in unserer Wohnung. Adonis war zugegen, einige deutsche Autoren, auch Kulturjournalisten, die sich im Nahen Osten auskannten. Es ging an diesem Abend hoch her, wilde Diskussionen um das moralische und intellektuelle Dilemma der palästinensischen Frage, aber auch um ein anderes Thema, ein Thema, das wir in unseren Briefen angeschnitten hatten: Können Gedichte überhaupt etwas bewirken? Mehr sein als individueller Trost? Oder – in Deinen Worten – mehr als „eine süße Droge, während das wirkliche Leben jenseits von Metaphern uns entgleitet“?

Adonis widersprach an jenem Abend heftig und hisste die Fahne der Poesie. Das Gedicht habe die Kraft, Änderungen im Leser zu bewirken, und – gerade weil das Gedicht das Vergangene vor dem Vergessen bewahre – weise es, so Adonis, auch in die Zukunft. Ich pflichtete ihm damals bei. Das ist auch ein Grund, weshalb ich so sehr an dem Buch interessiert bin, an dem Du gerade arbeitest, „Ehre des Gedächtnisses“. Ein ungewöhnlicher und auch deshalb schöner Titel! Wo und wann soll es erscheinen?

Wenn Du mich am Schluss Deines Briefes nach den Unterschieden zwischen der arabischen und der westlichen poetischen Kultur fragst, so muss ich Dir sagen, dass es durchaus Differenzen gibt, auch ganz verschiedene Traditionen, dies alles jedoch – und das ist das Faszinierende – auf dem Hintergrund eines gemeinsamen Glaubens an die Macht der Poesie.

Zu den Differenzen: Der arabischen Poesie ist im Westen lange Zeit vorgeworfen worden, dass sie keine „Bodenhaftung“ habe, dass ihr also jede Konkretheit fehle, dass sie zu vage sei, ohne Scheu vor zu großen Worten, vor zu viel Pathos, die Bildersprache geschult an englischer Spätromantik und an französischem Surrealismus. Diese Rezeption im Westen ist zum Teil von Unkenntnis geprägt. In vielen arabischen Gedichten gibt es eine „philosophische“ Verankerung in sehr frühen Texten oder im Sufismus. Um Fuad Rifka oder Mohammed Bennis wirklich zu verstehen, müssten wir Ignoranten uns zunächst für Monate in die Schriften von Ibn Arabi oder Al-Halladsch vertiefen. Spiritualität zählt im arabischen Sprachraum mehr als der im Westen gängige Nihilismus, Subjektivität mehr als der empirische Blick durchs Fernrohr auf größere Zusammenhänge. Erst später sind die jüngeren arabischen Dichter auch durch die Schulen des Zynismus, des Sarkasmus und der Lakonie gegangen. Spuren davon finde ich auch in Deinen Gedichten, die so vor siebzig oder achtzig Jahren noch nicht hätten geschrieben werden können.

Ich will sagen: Die Unterschiede zwischen den beiden poetischen Kulturen werden geringer. Das betrifft vor allem den Umgang mit der Sprache, auch mit den Strukturen. Alle Formen sind nun erlaubt. Die letzten Reservate scheint es mir im Thematischen zu geben. Sie haben mit religiösen, auch mit sexuellen Tabus zu tun. Ich werde nie vergessen, wie mich in Dubai ein junger Dichter – anlässlich der Übersetzung eines Gedichtes von mir, in dem es um das Geschlecht eines Hirsches ging – verzweifelt fragte, ob es für westliche Dichter denn keine „rote Linie“ gebe. Die Literaturkritiker in Deutschland, die sich der modernen arabischen Poesie zuwenden, leider sind es nur wenige, haben inzwischen verstanden, dass hier eine ebenso große Pluralität der Stile und der Themen herrscht wie bei uns. Die Loslösung vom klassischen Repertoire arabischer Dichtung hat zu einer enormen Fragmentarisierung geführt. So gibt es jetzt viele poetische Texte, die sich mit Krieg und Politik, mit Vergessen, Geschichte und Widerstand ganz konkret auseinandersetzen. Dazu zähle ich auch Deine Gedichte und die frühen von Mahmoud Darwish und auch Gedichte von Saadi Youssef, die ja auf vielen Stationen des Exils entstanden sind und die mir eine zentrale Position in Eurem kulturellen Gedächtnis einzunehmen scheinen.

Ich bin gespannt, wie Du das siehst.

Ich hoffe, dass es Dir und Deiner Familie trotz der widrigen Umstände um uns herum gut geht. Finde die Zeit, an Deinem Buch über das Gedächtnis weiter zu schreiben, und bleibe gesund!

Herzlich grüßt

Joachim

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