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(W)Ortwechseln > Mariam Al-Attar & Sabine Scholl > Ansonsten denke ich viel über Berührung und Sorge nach - Brief 7

Ansonsten denke ich viel über Berührung und Sorge nach – Brief 7

Sabine Scholl an Mariam Al-Attar, 23. November 2020

 

© Privat

Liebe Mariam,

gestern habe ich plötzlich meinen Reisepass nicht mehr gefunden, nachdem ich ihn am Postamt vorgezeigt hatte. Ich war wütend, dann aber dachte ich, was soll’s. Ich kann ohnehin nicht reisen und dieser Verlust passt hervorragend zur derzeitigen Situation. Mittlerweile bin ich das dritte Mal in Isolation wegen des Covid19-Virus. Im Frühjahr wurden die Veranstaltungen, bei denen ich meinen neuen Roman mit Lesungen vorgestellt hätte, abgesagt. Im Oktober kam mein Sohn aus Paris zu Besuch und wurde positiv getestet. Wir mussten in Quarantäne. Jetzt sind wir seit zwei Wochen dazu angehalten, unsere Kontakte einzuschränken. Soziales Leben ist fast nur mehr digital möglich. Ich vermisse Lesungen, Vorträge, direkten Austausch. Also habe ich Erdnüsse auf das Geländer meines Balkons gelegt und warte darauf, dass Krähen mich besuchen. Und dann lese ich in Deinem Brief, dass Du Tauben fütterst!

Stunden später fand ich meinen Ausweis wieder und war froh. Denn die Stempel und Visa erinnern mich an frühere Reisen. Seit ich weniger Freundinnen, Freunde, Familie treffen darf – es dürfen nur mehr Menschen aus zwei unterschiedlichen Haushalten zusammenkommen –, arbeite ich mehr als sonst. Mehr, als ich möchte. Ich schreibe an zwei Büchern gleichzeitig. Im neuen Roman geht es um Frauen im Zweiten Weltkrieg und ihre Versuche zu überleben, vor allem in der ländlichen Region, in der ich aufgewachsen bin. Das andere Buch soll ein Essayband werden, in dem ich verschiedene literarische Werke untersuche, um herauszufinden, welche Methoden es gibt, um geschichtliche Vorgänge in fiktionale Abläufe zu bringen. Bislang entdeckte ich spannende Ansätze, zum Beispiel erzählt eine Autorin die Geschichte ihrer Familie rückwärts, das heißt sie beginnt in der Gegenwart, um schließlich 120 Jahre früher in der Vergangenheit zu landen.

Außerdem schreibe ich seit dem ersten Lockdown mit einer Kollegin an einem Text, den wir Seuchenroman nennen und in dem wir versuchen, unser Unbewusstes in Sprache zu übersetzen. Wir schicken uns Textstücke per E-Mail hin und her, das Ende des letzten Satzes muss offenbleiben, um eine Anschlussmöglichkeit zu bieten. Die Ergebnisse sind meist überraschend, oft sogar lustig, fordern das Denken heraus. Und wir brauchen dieses Lachen.

Ansonsten denke ich viel über Berührung und Sorge nach. So lange war ich damit beschäftigt, meine Kinder zu versorgen, meine Studentinnen in meine Überlegungen einzubeziehen. Die Sorge um andere wurde mir oft zu viel, ich vergaß, für mich selbst zu sorgen. Inzwischen kommt es mir so vor, als sei die Sorge vor allem eine Möglichkeit, sich als Mensch unter Menschen zu fühlen. Die kleinen Zuwendungen, Freundlichkeiten, ein Lächeln mit den Augen über der Maske. So wie gestern, als ich am Postamt meinen Pass suchte und der Mann, der sich vor mir angestellt hatte, seine Blicke über den Boden huschen ließ, um mir beizustehen. Die Sorge für andere wird jedoch in unserer Gesellschaft nicht genug geschätzt. Obwohl alles zusammenbrechen würde, gäbe es nicht Menschen, die für andere sorgen, auch wenn sie wenig oder gar nichts dafür erhalten. In der Pandemie stellt sich heraus, wie wertvoll diese Arbeit ist, aber Konsequenzen werden keine gezogen. In den Lebensläufen der Mütter gelten die Jahre, in denen sie für ihre Kinder sorgen, als Leerstellen. Menschen, die Alte pflegen, werden gering bezahlt. Oft wird die Pflege ausgelagert, indem dafür Arbeitende aus ärmeren Ländern in die reichen Gebiete kommen und so ihre eigenen Kinder und Alten alleinlassen. Anstatt diese Strukturen zu verändern, werden in Deutschland Geldprämien für die Anschaffung von Neuwagen diskutiert oder eine bessere Ausstattung des Militärs.

Spannende Zeiten, sagt meine über achtzigjährige Nachbarin. Um uns zu schützen, können wir uns nur mehr im Freien treffen und mindestens zwei Meter voneinander entfernt unterhalten, beispielsweise auf der Dachterrasse unseres Wohnhauses. Da es kalt geworden ist, ziehen wir Daunenmäntel an, trinken Tee aus Thermosflaschen. Dann muss ich an das Dach in Berlin denken, auf das wir jedes Jahr zu Silvester hinaufstiegen, um die Stadt zu überblicken. Dick verpackt, Sekt trinkend und im Rauch und Lärm von Leuchtraketen das neue Jahr begrüßend. In Wien hingegen tanzen zu Jahresende alle Walzer. Das Wort kommt von walzen, das heißt drehen, aber auch schlendern, langsam dahingehen. Eigentlich passt das ganz gut für unsere derzeitige Lage. Letztes Silvester wurde ich zu diesem Tanz aufgefordert und habe einen Trick gelernt. Denn beim Walzertanzen dreht man sich minutenlang im Kreis, das kann Schwindel verursachen, nicht aber, wenn man seinem Tanzpartner direkt in die Augen schaut. In seinen oder ihren Pupillen kann man sich verankern. So fällt man nicht um. Das wünsche ich Dir. Und uns allen.

Ich umarme Dich!

Sabine

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