Menu
Suche
Weiter Schreiben ist ein Projekt
von WIR MACHEN DAS

> Einfache Sprache
Logo Weiter Schreiben
Menu
(W)Ortwechseln > Mariam Al-Attar & Sabine Scholl > Was geschieht, wenn wir die Bücher hinter uns lassen? - Brief 6

Was geschieht, wenn wir die Bücher hinter uns lassen? – Brief 6

Mariam Al-Attar an Sabine Scholl, 13. Oktober 2020

Übersetzung: Suleman Taufiq

© Noor Al-deen

 

 Während die anderen von einer Stadt in die nächste ziehen, reise ich in meinem Zimmer in die Kindheit, in die Jugend und laufe an meinen Fehlern vorbei. Ich berühre sie nicht und korrigiere sie auch nicht, denn sie werden mich eines Tages neu formen. Ich laufe an den Möglichkeiten vorbei, die ich verpasst habe, und beobachte sie aus der Ferne, während sie wachsen. Dann knicke ich die Seite oben am Buchrand, wo der Autor mir aus der Seele gesprochen hat. Ich unterstreiche die Sätze rot und die Seite ist voller roter Linien; ich will durch die reale Glastür gehen. Es gelingt mir nicht, obwohl ich schon oft durch Türen gegangen bin. Also versuche ich es weiter, und jedes Mal werde ich da drinnen älter und hohler. Vielleicht bin ich gefangen in verschiedenen Zufällen, die mir zugestoßen sind. Dagegen wehre ich mich mit neuen Ideen, die nur mir gehören. Ich denke über die Anziehung der freiwillig gewählten Einsamkeit nach, die mich stärker gemacht hat. Und mit jeder weiteren von anderen ausgelösten Vertrauenskrise schiebe ich die Mauer weg, die aus dem Papier der Bücherwelt besteht. Ja, ich fühle die Worte der Autoren in den Büchern. Wenn ich mehr Zeit hätte, wäre mein Leben weniger zufällig und würde von bevorstehenden oder vergangenen Ereignissen meines Lebens erzählen. Dann verbrenne ich, was meiner nicht würdig ist, und wähle aus, was mir entspricht. Ich bin nicht egoistisch. Ich möchte nur die zufälligen Begegnungen wiederholen, die mein Leben verschönert haben. Im Übrigen steht die Tür für alle Wahrscheinlichkeiten offen.

Liebe Sabine,

mit der Schriftstellerin, der ich die Türen meiner Fantasie öffnete und der ich die ersten Briefe schrieb, mit dieser Mutter stehe ich nun schriftlich in Kontakt, und mit jedem neuen Brief vertiefe ich mich mehr in ihre Gedankenwelt. Als ich las, was Du über Städte geschrieben und wie Du Dich dort zum ersten Mal fremd gefühlt hast, bekam ich das Bedürfnis, Dir darüber am Anfang meines Briefes zu schreiben.

Wie geht es Dir? Was hast Du Neues geschrieben? In letzter Zeit habe ich Deine Briefe vermisst. Und ich wünsche Dir von Herzen, dass Du und Deine Lieben wohl und sicher seid. Was mich betrifft, ich habe einige Texte übersetzt und an meinen neuen Büchern gearbeitet. Ich habe einigen Freunden geholfen. Zum Glück vertrauen sie meinem literarischen Geschmack und teilen mir mit, was sie schreiben oder übersetzen. In der Tat übe ich, meine sozialen Beziehungen zu pflegen, und versuche, mich ein wenig außerhalb der Welt der Bücher zu bewegen oder zumindest versuche ich, zwischen beidem ein Gleichgewicht zu finden. Die Briefe helfen mir sehr und ich versuche, daraus zu lernen. Ich denke an Dein Leben als Mutter und an Dein Schreiben. Die Trennung oder die Verbindung beider Tätigkeiten verdient großen Respekt! Ich beglückwünsche Dich dazu!

In den Briefen erfahre ich von den Details aus dem Leben einer Schriftstellerin, wie Du eine bist, die Städte bereist und dort gelebt hat. Ich würde gerne mehr über Deine Bücher erfahren. Werden sie jemals auf Arabisch erscheinen? Und hast Du je Deine Briefe gesammelt oder ein Tagebuch geführt?

Einmal habe ich einen Erzählband der iranischen Schriftstellerin Zuya Pirzad gelesen. Sie beschäftigt sich mit Problemen von Frauen. Ihre Bücher wurden ins Französische und Englische übersetzt; sie handeln von der weiblichen Wirklichkeit, vom Alltag der Frauen, den die Autorin in einem schlichten, ergreifenden Erzählstil beschreibt. Sie schreibt: „Das wirkliche Leben besteht aus diesen sich wiederholenden Details eines einfachen Lebens, wir sind seine Figuren, wir gehen an ihm vorbei, ohne das Gefühl zu haben, dass wir durch unser Leben gehen.“

Ich denke, dass die produktive Frau ein doppeltes Gefühl für alles hat. Sie kann nicht erfolgreich sein, wenn sie sich nicht zurückzieht oder ihre eigene Einsamkeit erlebt. Der türkische Schriftsteller Cemal Süreya sagt: „Wenn du jemals fragst, wer der mächtigste Mensch auf der Welt ist, würde ich antworten: die Frau, die gelernt hat, die Einsamkeit zu erleben.“

Jeden Morgen setzen sich zwei Tauben auf mein Fenstersims. Aus Gewohnheit gebe ich ihnen ein paar Brotkrumen und etwas Wasser. Ich fühle, dass diese kleine Gabe eine fremde Seele wiederbelebt und meine eigene Seele gütiger macht. Während ich Dir schreibe, picken sie das Brot auf.

Liebe Grüße, bleib gesund!

Mariam

Autor*innen

Datenschutzerklärung

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner