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(W)Ortwechseln > Lina Atfah & Nino Haratischwili > Ein Ei verlor seine Schale – Brief 1

Ein Ei verlor seine Schale – Brief 1

Lina Atfah an Nino Haratischwili, 14. Januar 2019

Übersetzung: Osman Yousufi

„Ich habe dir über Fairuz und ihre Stimme bislang noch nichts erzählt, auch nichts darüber, was sie für mich bedeutet…“         Foto: Teddy Moarbes

Von: lina atfah
Betreff: Guten Abend liebe Nino
Datum: 27. Januar 2019 um 22:42:35 MEZ
An: Nino Haratischwili

Guten Abend, liebe Nino,

heute Morgen bin ich glücklich aufgewacht. Ich trank meinen Matetee und hörte dabei Fairuz. Ich habe dir über Fairuz und ihre Stimme bislang noch nichts erzählt, auch nichts darüber, was sie für mich bedeutet, und zwar nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie und mein ganzes Land. Als würde ich mir einen alten Morgen ins Gedächtnis rufen, hörte ich Fairuz, während sich meine Zunge unter der köstlichen Bitterkeit des Matetees zusammenzog.

Kann Schreiben die Welt verändern?, fragte ich mich, aber ich hatte das Gefühl, dass diese Frage zu groß und kompliziert war, dass sie zu diesem ganz normalen Morgen nicht passte, deswegen beschloss ich, sie zu vereinfachen, aber es gelang mir nicht. Ich dachte lange darüber nach, wie ich etwas bewirken könnte. Was kann ich schon tun, damit die Welt zu einem friedlicheren Ort wird? Das Schreiben ist tatsächlich das Einzige, was ich kann.

Die Welt verändert sich so schnell und wird jeden Tag gewalttätiger, und die Menschen haben keine Lust zu lesen, sie fürchten sich vor dem Lesen, weil das Lesen ihre Sorgen verstärken könnte, weil es sie zwingen könnte, endlich eine Entscheidung zu treffen. Warum sollte ich ein Gedicht von Bertolt Brecht lesen, wenn ich das Kreuzworträtsel einer Zeitung lösen kann, deren Nachrichten mich nicht interessieren?

So sah ich diese Welt. Ein Ei verlor seine Schale und sein Inneres floss ins Nichts, wo das Schreiben nur noch eine bittere Tat ist. Irgendwo auf dieser Welt stirbt jemand an Hunger, an Kälte oder an Unterdrückung. Und woanders lebt ein anderer, als würde er das Leben auf seinem Knie schlachten.

Viele traurige Gedanken, liebe Nino, deshalb versuche ich verzweifelt zu schreiben, ich versuche, diesem Leben seine Ungerechtigkeit zu vergeben.

LG Lina

PS.: Ich würde dir gerne eine Sammlung von Fairuz’ Liedern schicken. Ich hoffe, du hast Zeit, sie zu hören. Vielleicht könnten dir diese Lieder etwas über mein Land erzählen, eine Fantasie, die ich nicht beschreiben kann.

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