Das Seidentuch meiner Großmutter – Brief 2
Asal Dardan an Daryna Gladun, Berlin, 27. November 2022
Übersetzung: Sofiya Onufriv ins Ukrainische
Liebe Daryna,
ich kann nicht anders anfangen als zu gestehen, dass ich mich gerade sehr klein fühle. Und dann erreicht mich Dein Brief, der von so viel Größe berichtet. Meine Gedanken fingen an, sich in ihm zu verstecken, als könnten seine Worte mir eine Herberge bieten. Ich muss aber meine eigenen finden, wenn ich hier nicht weiterhin klein und allein sitzen möchte.
Auf der Startseite der deutschen Nachrichtensendung Tagesschau stehen an erster Stelle zwei Schwerpunkte nebeneinander: die Ukraine und der Iran. Die beiden Länder, in denen wir zur Welt gekommen sind, liebe Daryna. Du berichtest in Deinem Brief, wie Du am 24. Februar Dein Land verlassen hast, welche Odyssee Du seitdem in Deinen Schuhen hinter Dich gebracht hast. Du schreibst, wie wichtig Dir all jene Kleidungsstücke sind, die Du bereits in Deiner Heimat besessen hast; dass Du Dich an ihnen und auch am Krieg festklammerst wie an einem Faden, der Dich mit Deiner Familie und Deinem Zuhause verbindet. Ich wünsche Dir, dass Kleidung bald nur noch Kleidung ist und dieser Faden sich wieder in Frieden verwandelt. Ich weiß, dass die Gewalt und Aggression, die mit dieser Invasion in Dein Land kamen, dadurch nicht ungeschehen gemacht werden. Aber aufhören sollen sie, damit der Schrecken von der Zukunft ablässt. Erinnern muss man so oder so.
Der erste Satz meines Buches „Betrachtungen einer Barbarin“ lautet: „Meine Flucht ist eine Erzählung, keine Erfahrung.“ Die Schuhe, die ich an jenem Tag getragen haben mag, waren kaum mehr als ein Accessoire. Ich hatte zwar noch im Iran das Laufen gelernt, aber an jenem Tag bin ich wahrscheinlich vor allem getragen oder in einem Kinderwagen gefahren worden. Was meine Eltern auf ihrer Flucht aus dem Iran nach Deutschland mitgebracht haben, weiß ich nicht. Es kann nur sehr wenig gewesen sein. Ich weiß auch nicht, ob sich noch irgendetwas davon in ihrem Besitz befindet. Seitdem sind über vierzig Jahre vergangen.
Ich besitze ein einziges Kleidungsstück, das für mich eine Verbindung zu meiner Herkunft darstellt, auch wenn es vermutlich noch nie im Iran getragen wurde. Es ist eines der Seidentücher meiner Großmutter, ein schwarz-weiß gemustertes. Sie trug es als Kopftuch, wie es auch andere Christinnen tun. Sie nahm es nie ab, auch nicht zu Hause oder im Kreis der Familie. Sie lebte im Irak und im Iran, einige Jahrzehnte in Schottland und die letzten Jahre ihres Lebens in den USA und in Deutschland. Man würde sie dennoch nicht als Kosmopolitin bezeichnen. Sie hatte keine nennenswerte Schulbildung, sprach kaum Englisch, setzte sich nicht in Bezug zu ihrem Umfeld. Ich kann mir meine Großmutter nicht allein auf der Straße vorstellen, wie sie bummeln gegangen wäre oder sich mit Freundinnen in einem Café getroffen hätte. Ihr Leben war ein begrenztes Leben in einem Zuhause, das jemand anderem gehörte. Ein Leben für andere – ihre Eltern und Geschwister, ihren Ehemann, ihre Kinder, ihre Enkelkinder.
Ich trage ihr Tuch immer um den Hals, wenn ich krank werde. Ich trage es so lange, bis ich mich wieder gesund fühle. Mit diesem Ritual habe ich mir einen Faden erdacht. Grotesk, dass es genau solch ein Stück Stoff ist, das seit nunmehr 43 Jahren symbolisiert, wie Frauen im Iran schikaniert, unterdrückt und sogar straffrei ermordet werden können. Durch die Flucht meiner Eltern wurde ich vor einem Leben in solchen Verhältnissen bewahrt. Geblieben sind mir Echos meiner Muttersprache und ein Gefühl der Verantwortung, dem ich nicht gerecht werde. Der Iran ist nicht mein Land und schon gar nicht mein Zuhause. Aber die Menschen gehen mich etwas an. Darum widerspreche ich nicht, wenn man mich eine deutsch-iranische Autorin nennt. Vermutlich ist auch das kaum mehr als ein erdachter Faden, aber er kreiert eine Verbundenheit, die mir viel bedeutet.
Du erwähnst zum Ende Deines Briefes die ukrainische Dichterin Oksana Stomina, die Du in Brünn kennengelernt hast. Ich weiß nicht, ob Ihr Euch zufällig begegnet seid oder nicht. Ich glaube, durch unsere Sprachen und Texte finden wir glücklicherweise immer wieder andere, die verstehen, ohne dass wir alles erklären müssen. In den letzten Wochen habe ich mich intensiv mit Menschen ausgetauscht, deren Familiengeschichten in den Iran und nach Kurdistan führen. Bei diesen Begegnungen geht es nicht um Herkunft, sondern um Zusammenhalt. Sie helfen gegen das Gefühl des Kleinseins, liebe Daryna.
Ich bin dankbar, dass ich die Adressatin Deines Briefes bin. Er wird mich noch lange begleiten. Schickst Du mir ein Foto Deiner Schuhe?
Deine Asal
* Dieser Brief erschien am 8. 12. 2022 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
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