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Weiter Schreiben Ukraine - Briefe > Daryna Gladun & Asal Dardan > Der Schnee ist ein Verband, den die Erde auf unsere Seelen legt – Brief 3

Der Schnee ist ein Verband, den die Erde auf unsere Seelen legt – Brief 3

Daryna Gladun an Asal Dardan, Dartmouth,

Übersetzung: Claudia Dathe Aus dem Ukrainischen von

Schneelandschaft in der Ukraine © Oleksandr Pidvalnyi / Pexels
© Oleksandr Pidvalnyi / Pexels

 

Liebe Asal,

der Winter in Vermont ist genauso kalt und schneereich wie in meiner Kindheit.

Als ich klein war, dachte ich, Schnee sei ein festliches Gewand, das unsere Welt nur während der Feiertage trägt. Ich muss zugeben, dass die „Welt“ meiner Kindheit nicht über Chmelnyzkyj und seine Vororte hinausreichte. Ich wusste noch nicht, dass die Jahreszeiten nicht in allen Teilen der Welt zur gleichen Zeit wechseln. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendwo zu Weihnachten kein Schnee liegen könnte …

Der Schnee wurde von Jahr zu Jahr weniger. Ich bekam keine Lammfellmäntel und Pelze, keine riesigen kratzenden Pullover und Handschuhe mehr, und in einem Jahr musste der Schneefiguren-Wettbewerb im Stadtpark ausfallen, weil es „kein Material“ gab.

So viel Schnee wie jetzt gerade, hier draußen, habe ich zum letzten Mal im Frühjahr 2013 gesehen. In dem Winter hatte es nicht besonders viel geschneit, aber dafür fiel Ende März so viel Schnee, dass man auf den Hauptstraßen von Kyjiw Snowboardfahrer sah. Im darauffolgenden Frühling war die Krim schon von Russland annektiert und in der Ostukraine herrschte Krieg – das war nicht der rechte Zeitpunkt, über den vorjährigen Schnee zu sinnieren.

In Butscha hat es letztes Jahr nicht besonders viel Schnee gegeben. Er ist nicht lange liegengeblieben und ziemlich schnell wieder getaut.

Als ich am 24. Februar von zu Hause geflohen bin, hatte ich große Angst, dass es schneien könnte. In einem Schneesturm kannst du dich leicht verirren, besonders im Wald. Und wenn der Schneesturm nachlässt, kannst du dich nirgends verstecken, weil die Spuren im frisch gefallenen Schnee dich verraten. Auch wenn ich entkommen wäre, hätte ich mich also kaum verstecken können.

Aber als der Schnee kam, war ich schon weit weg von der Frontlinie – ich stand an der Grenze zu Polen an einer wärmenden Feuertonne. Bei den Tonnen mussten die anderen Geflüchteten und ich an die Revolution der Würde denken. Acht Jahre danach waren unsere Gesichter wieder erhitzt, unsere Winterkleidung roch wieder nach Feuer, wieder waren wir nachts nicht zu Hause, aßen aus Wegwerfgeschirr das, was andere für uns gekocht hatten, und hofften, dass am nächsten Morgen alles vorbei wäre, dass wir gesiegt hätten und glücklich nach Hause zurückkehren könnten …

Ich muss jetzt oft an die Revolution der Würde denken, denn sie war es, die mich zur Dichterin gemacht hat. Zuvor hatte ich Prosa geschrieben. Aber während der Revolution hatte ich nicht einmal genügend Zeit, um zu schlafen, von der Zeit, die ich für einen Roman oder wenigstens eine Erzählung gebraucht hätte, ganz zu schweigen. Außerdem kam es mir vor, als würden die Wörter sich in den langen Sätzen eher verstecken, als etwas zu sagen. Ich fing also an, Gedichte zu schreiben, weil sie mir als die ehrlichere künstlerische Form vorkamen. Ich bin immer noch der Ansicht, dass ein Wort in einem Gedicht viel mehr wiegt als ein Wort in einem Roman. Je kürzer ein Text ist, desto schwerer wiegt jedes einzelne Wort. Selbst dieser Brief an Dich wäre viel dichter, wenn es weniger Wörter gäbe, die das überdecken, was mich eigentlich umtreibt, und zwar:

  • Ich bin immer noch nicht zu Hause.
  • Ich bin elf Monate nicht zu Hause gewesen.
  • Ich vermisse mein Zuhause.
  • Es geht mir gut da, wo ich jetzt bin.
  • Ich fühle mich schuldig, weil es mir gutgeht.
  • Einige meiner Bekannten sind im Krieg gefallen.
  • Mein Stiefvater hat einen Einberufungsbefehl bekommen, wurde aber aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt. Er hat Alzheimer.
  • Meine Mutter hat einen Notkoffer gepackt.
  • Meine Oma und mein Opa werden sich unter keinen Umständen evakuieren lassen.
  • Ich schiebe die Beantwortung von Briefen und Interviews hinaus, weil ich hoffe, dass der Krieg bald zu Ende ist und ich dann nicht mehr antworten muss.
  • Der Krieg geht nicht zu Ende. Ich halte die Deadlines nicht ein.
  • Deswegen habe ich Dir lange nicht geantwortet. Entschuldige bitte!

 

Ich arbeite im Moment an dem Drehbuch für „Die Erde ist weich“ über die Geschichte meiner Familie und den Krieg. Zuerst dachte ich, ich könne diese Aufgabe leicht bewältigen, weil ich mir sicher war, alles über meine Familie zu wissen.

Ich wusste zum Beispiel, dass meine Urgroßmutter Maria mit zwanzig Jahren fliehen musste. Sie floh vor der Besatzung durch die Nazis aus der Ukraine nach Kasachstan. Dort wurde meine Großmutter Switlana geboren. Marias Mann Uljan wurde im Krieg zweimal verwundet – die Wunden an seinem Bein verheilten nicht, und er ging vierzig Jahre lang an Krücken.

Ich wusste, dass meine Mutter Olga in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 1989 auf dem Flughafen von Suchumi gelandet ist. Am 15. und 16. Juli kam es in Suchumi zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Georgiern und Abchasiern. Damit sie ihre Eltern zu Hause anrufen konnte, passierte sie die Checkpoints in einem Kofferraum. Sie war damals 22 Jahre alt.

Als Kind habe ich mir oft die alten Familienalben angeschaut. 2021 habe ich sogar eine Expedition unternommen, um Familienzeugnisse zu sammeln. Doch als ich anfing, das Drehbuch zu schreiben, wurde mir klar, dass ich außer ein paar Geschichten, die immer wieder erzählt wurden, eigentlich nichts wusste. Ich sah in meinen Angehörigen immer die Älteren, und ihre Erfahrungen waren für mich weit weg, fremd und unverständlich. Maria habe ich als leidende alte Frau in Erinnerung, die ans Bett gefesselt war. Als sie ihre Geschichte über den Zweiten Weltkrieg erzählte, habe ich sie mir so vorgestellt. Wenn meine Großmutter und mein Großvater Geschichten über den Zweiten Weltkrieg erzählten, stellte ich sie mir als Großvater und Großmutter vor und nicht als vier- und sechsjährige Kinder. Als Kind habe ich ihren Erzählungen wie Gutenachtgeschichten gelauscht und konnte mir nicht vorstellen, dass ich irgendwann sagen würde: „Ich habe mit eigenen Augen einen Bombenangriff gesehen – wie meine Urgroßmutter.“

Maria erzählte oft von einem Flüchtlingszug, der von Flugzeugen beschossen wurde, und von einem Rom, der nach dem Beschuss, den Maria überlebt hatte, seine ganze Familie auf dem Feld begrub. Ich hörte mir diese Geschichten an und hatte keine Angst, denn Maria erzählte sie persönlich, und deswegen wusste ich, dass sie nicht tödlich enden würden. Selbst als sie mir berichtete, wie sie meine Großmutter auf einer Holzbank in einem Bahnhof zur Welt gebracht hatte und ein Feldscher mit Wundbrand und eine Frau mit doppelseitiger Lungenentzündung, die während der Geburt starb, sie entbunden hatten, wusste ich, dass mit Maria und dem Neugeborenen (meiner Oma) nichts Schlimmes passieren würde – sie würden den Zweiten Weltkrieg überleben und in die Ukraine zurückkehren. Ihre Lebensgeschichten flossen für mich mit den Märchen vom paradiesischen Ei und von der bösen Stiefmutter ineinander, mit Aschenputtel und Blaubart. Egal wie gefährlich ihre Abenteuer, wie widrig die Umstände waren, ich wusste im Voraus, dass sie gut ausgehen würden.

Erst jetzt ist mir klargeworden, dass die schlimmsten Geschichten über Kriege und bewaffnete Konflikte jene sind, die keiner mehr erzählen kann. Wenn mir meine Mutter in diesen Tagen berichtet, wie das Leben in der Ukraine ist, weiß ich, dass ihre Geschichten gut ausgehen, weil sie noch am Leben ist. Ich schreibe Dir von meinen Erfahrungen, und mit meinen ersten Zeilen weißt Du, dass auch meine Geschichte gut ausgeht, und ich weiß, dass auch Dein Brief gut ausgeht, selbst wenn es für uns beide im Moment keine leichte Zeit ist.

Menschen, deren Geschichten tragisch enden, können sie weder erzählen noch aufschreiben. Da ist zum Beispiel die Geschichte darüber, wie sich eine Familie zu einer Feier versammelte, eine Rakete in ihr Haus einschlug und die ganze Familie umkam. Wie eine junge Frau am 31. Dezember 2022 auf dem Nachhauseweg bei einem Angriff umkam. Wie eine alte Frau in den Bombenkeller ging und im nächsten Moment tot war. Neben der Toten lag ihre Nachbarin. Hunderte ukrainischer Kinder werden ihren Enkeln und Urenkeln nie von ihrer Kindheit im Krieg erzählen, weil sie nie erwachsen werden und nie Kinder oder Enkel haben werden, weil sie im Krieg umgekommen sind.

Manchmal überzieht der Winter die Wunden der frischen Gräber mit Schnee. Jetzt denke ich, der Schnee ist ein Verband, den die Erde auf unsere Seelen legt, damit wir das Leben ein bisschen leichter ertragen können. Der Schnee schluckt die Geräusche, aber er schluckt auch einen Teil unseres Schmerzes, unserer Trauer und unserer Schwermut. In dem Drehbuch, an dem ich arbeite, wird es viel Schnee geben und viele Überlegungen zum Leben nach dem Krieg. Ich hoffe, dass der Krieg in der Ukraine zu Ende ist, wenn ich mit dem Drehbuch fertig bin.

Hoffnungsvoll

Daryna

 

 

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