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Weiter Schreiben Ukraine - Briefe > Daryna Gladun & Asal Dardan > Widerstand muss man leben – Brief 4

Widerstand muss man leben – Brief 4

Asal Dardan an Daryna Gladun, Berlin,

Übersetzung: Claudia Dathe ins Ukranische

Postkarten eines Kunsprojektes von Daryna Gladun und Lesyk Panasiuk © Asal Dardan
© Asal Dardan

 

Liebe Daryna,

ich danke Dir, dass Du mir schreibst, auch wenn dadurch die Zeit, die seit dem 24. Februar vergangen ist, sich noch einmal in all ihrer Länge – all ihrer Kürze – zeigt. Bald ist es ein Jahr.

Ich habe keine Vorstellung vom Krieg, davon wie das Empfinden in der Minute nach einer Bombardierung ist, wie man versucht, es mit dem Empfinden in der Minute davor in Verbindung zu bringen. Ich kenne aber das Anhalten – der Zeit, des Atmens, des eigenen Lebenswillens, der dann doch nur stärker in einem pocht. Darüber habe ich vor zwei Jahren einen Text geschrieben, der in einem Magazin erschien. Heute wundere ich mich darüber, dass ich es getan habe. Diesen Moment einfach preisgegeben habe.

Ich war sechs Jahre alt, meine Eltern waren beide weg, aus unterschiedlichen Gründen in unterschiedlichen Krankenhäusern. Ich saß in der Badewanne unserer Hochhauswohnung und wusste nicht, wie lange sie wegbleiben würden. Eine gute Freundin meiner Mutter war in dieser Zeit bei mir, sie löste unsere alte Wohnung auf und suchte eine neue, in der ich dann mit meiner Mutter leben würde. Damals gab es noch keine Mobiltelefone und unser Festnetztelefon war bereits abgemeldet. Sie ging also zu einer Telefonzelle, um ein paar Anrufe zu machen. Ich sollte baden und mir die Haare waschen. Aber ich hielt den Atem an. Für mich war klar, dass auch sie nicht wiederkommen würde, dass ich mir nun überlegen musste, wer sich von nun an um mich kümmern konnte. In Gedanken ging ich die Nachbarswohnungen durch, stellte mir vor, die Klingel zu bedienen, legte mir die Worte zurecht. Aber ich blieb sitzen und hielt den Atem an.

Du hast Recht, Daryna, egal, wie diese Geschichte weitergeht, sie geht gut aus. Gut genug. Weil ich nicht erstickt bin, weil ich auch heute noch atme. So wie Du. Wir schreiben beide Texte, wir arbeiten an Projekten, die uns bereichern und uns erlauben, in die Welt zu treten, mit ihr in Verbindung zu bleiben. Wir können in die Vergangenheit blicken und aus ihr Geschichten machen.

Als wir uns im Dezember bei der Lesung für Weiter Schreiben trafen, gabst Du mir ein paar Postkarten. Sie gehören zu einem Projekt, an dem du gemeinsam mit Lesyk Panasiuk arbeitest. Wie Schneekugeln vor weißem Hintergrund sieht man jeweils eine kleine, stille Szenerie aus unterschiedlichen Objekten, die sich unter einem Glas oder einem Glasbehälter befindet: Ein militärgrüner Plastiksoldat – der aussieht wie jene, mit denen meine Kinder spielen, dessen Fuß auf eine tote Motte zu treten scheint; gehärteter Honig, der drohend über dem Kopf eines anderen Plastiksoldaten hängt; Plastiksoldaten gefangen in einem Einkaufnetz in knalligem Orange – durch die Maschen sieht man vereinzelte Köpfe oder Waffenhälse. Doch es sind auch Alltagssachen, etwa ein dickes Büschel dunkler Haare oder verschrumpelte Kartoffeln, die wie graue Steine zwischen kurzen Zweigen und Betonbrocken liegen. Wie angehaltener Atem, so wirken deine Postkarten.

Man wünscht sich dieses große Netz, das sich in all seiner knalligen Bestimmtheit über die Soldaten legt, über diesen hässlichen Krieg, über diesen Schrecken. Wie schwer es ist, nicht an der Verachtung zu ersticken, die man für die Macher dieses Krieges empfindet. Für jene, die nun Geld machen mit ihm, damit, dass Menschen andere Menschen töten und wiederum andere sie beerdigen müssen. Ich weiß nicht, wie man das aushalten soll, dass einzelne Leben für wertlos erklärt werden – dabei halten wir es ja aus, schon immer.

Wir arbeiten daran, glaube ich, uns davon moralisch nicht deformieren zu lassen. Das ist, was bleibt. Dass man immer noch in der Lage ist zu sagen, welches Unrecht es bedeutet, dass am 31. Dezember 2022 ein Mädchen auf ihrem Heimweg einem Granatenbeschuss zum Opfer fiel. Ein Mädchen, das nicht mehr erwachsen werden wird, sich nicht mehr entfalten werden kann, um herauszufinden, was für ein Mensch es sein möchte. Ein Mädchen, das nun nicht mehr atmet. Diese Lücken prägen unsere Gesellschaften, kein Wort und keine Tat können sie schließen oder ihr einen Sinn verleihen. Ich wünsche mir manchmal, dass jene, die diese Opfer zu verantworten haben, jeden einzelnen Namen und jede einzelne ausgelöschte Lebensgeschichte auswendig lernen müssen. Sie müssen sie immerfort aufsagen, ihr eigenes Leben diesem brutalen Gedicht widmen.

Aber es gibt Hoffnung, weil wir uns dieser Namen und Lebensgeschichten bewusst sein können, uns gegenseitig finden können in diesem Bewusstsein. Vielleicht wissen wir nicht alles über sie, können ihren Verlust ohnehin niemals wiedergutmachen. Aber wir schenken einander ein Wort, einen Brief, eine Postkarte oder eine Umarmung, reichen uns die Hand, versuchen uns gegenseitig das Atmen zu erleichtern.

Ich habe kürzlich einen Einblick darin gekriegt, wie ein Leben aussieht, das sich dem entzieht, wie leer und einsam es dann ist. Es gibt nämlich Menschen, die nicht für andere da sein möchten. Aber gegen das Unmenschliche, gegen Kälte und Hass und Einsamkeit und Krieg kann man nicht nur im Abstrakten sein, Widerstand muss man leben. Ansonsten vermeidet man zwar, den Schmerz zu fühlen, aber man nimmt sich auch jede Möglichkeit, ihn zu überwinden.

Ich verstehe Deine Hoffnung, weil ich in Dir einen Menschen sehe, der all das weiß und lebt, auch wenn es schmerzt, auch wenn man monatelang nicht aufatmen kann. Ich wünsche Dir, dass diese Hoffnung Dich weiterhin trägt, sogar durch die schwersten Tage, bis Dein Projekt und auch dieser Krieg beendet sind. Der Krieg wird enden, er muss enden.

Deine Asal

 

 

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