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Weiter Schreiben Ukraine - Briefe > Daryna Gladun & Asal Dardan > Aber nach den Schuhen fragt keiner - Brief 1

Aber nach den Schuhen fragt keiner – Brief 1

Daryna Gladun an Asal Dardan, Dartmouth, 27. November 2022

Übersetzung: Claudia Dathe aus dem Ukrainischen

Daryna an Asal Brief 1, Bild mit Schuhen, von denen sie in ihrem Brief schreibt.
© Privat

 

Liebe Asal!

Die letzten Tage waren besonders schwer, auch wenn ich nicht glaube, dass bis zum Ende des Krieges leichte Tage kommen werden. Die vergangene Woche schien mir dennoch schwerer als alle Steine dieser Welt zusammen.

Am 27. Oktober vor zehn Jahren ist mein Vater gestorben. Wir hatten kein besonders enges Verhältnis. Wir haben uns nur einige Male im Jahr gesehen, obwohl wir in derselben Stadt wohnten.

Und nun trage ich schon seit zehn Jahren Tag für Tag seinen Tod mit mir herum.

Das ist wie mit dem Frieden: Ich habe nie so oft an ihn gedacht wie nach dem 24. Februar. Genau wie mein Vater ist der Frieden in meinem Leben immer dagewesen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ich irgendwie anders leben könnte … bis mein Vater starb und zwei Jahre später der Krieg begann … Ich war allerdings nicht sofort davon betroffen. In den ersten paar Tagen hatte ich die Angst, Kyjiw könnte bombardiert werden, aber schon einen Monat später hatten ganz normale Alltagssorgen diese Angst verdrängt. Allmählich wurde der Krieg im Osten der Ukraine zu einem so normalen Umstand in meinem Leben, wie es der Frieden bis 2014 gewesen war. Was die Binnenflüchtlinge erzählten, war unvorstellbar! Es passte einfach nicht in mein Weltbild. Mit jedem einzelnen Fingernagel krallte ich mich am Frieden fest. Selbst noch im vergangenen Jahr, als meine Bekannten im Herbst allmählich Vorbereitungen für den Krieg trafen, versuchte ich mich an den Frieden zu klammern, als ob das etwas änderte.

Jetzt ist es genau umgekehrt: Ich klammere mich an den Krieg wie an einen Faden, der mich mit meiner Familie und meinem Zuhause verbindet. Ich trage den Krieg täglich bei mir und erinnere alle daran. Die Leute fragen mich, wo ich diesen netten Rucksack gekauft habe. Ich antworte: „In der Ukraine. Mit diesem Rucksack bin ich aus Butscha aufgebrochen.“ Ich werde gefragt: „Woher hast du denn die Jacke?“, und ich sage: „Aus der Ukraine. Das ist meine Glücksjacke. Ich habe sie auf der Flucht vor dem Krieg getragen.“ Dann hören die Fragen auf – keiner fragt nach den Schuhen, obwohl das die Schuhe sind, in denen ich am Abend des 24. Februar das Haus verlassen habe. Sie waren damals so gut wie neu. In ihnen bin ich in den wahrscheinlich letzten Vorortzug aus Butscha gestiegen und bis an die Grenze der Gebiete Kyjiw und Schytomyr gefahren. In ihnen habe ich die lange Fahrt zu meiner Mutter nach Chmelnyzkyj unternommen. In ihnen bin ich aus Chmelnyzkyj aufgebrochen. In ihnen habe ich in einem kalten Evakuierungszug 28,5 Stunden an der ukrainisch-polnischen Grenze gestanden. Der Regionalzug, mit dem ich Butscha verlassen habe, war paradoxerweise wärmer und hatte gepolsterte Sitze. Der Flüchtlingszug war kalt und hatte Holzbänke … In diesen Schuhen kam ich nach Kolbuszowa, Rzeszów, Krakau, Warschau, Frankfurt (O.), Berlin, Potsdam, Frankfurt (M.), Brünn, Wien, Göteborg, Stockholm, Uppsala, in ihnen bin ich in die USA geflogen … Meine ganze Odyssee hat sich in diesen Schuhen zugetragen. In ihnen habe ich mein Zuhause verlassen, in ihnen werde ich nach Hause zurückkehren.

Aber nach den Schuhen fragt keiner, liebe Asal.

Ich klammere mich jetzt viel mehr an das, was ich von zu Hause mitgenommen habe. Und wenn der Gegenstand auch noch so unnütz sein mag. In den acht Monaten habe ich mit Sicherheit nichts weggeworfen.

Von den Dingen, die ich im Exil erworben habe, kann ich mich leichter trennen: Sie kommen und gehen – ich weine ihnen nicht nach. In der letzten Woche ist mir ein Anhänger kaputtgegangen, den ich in Berlin gekauft hatte. Das war nicht schlimm, hat mir nur ein bisschen leidgetan. Aber als ich einen Ohrring verloren habe, den ich 2017 in einem Atelier in Odessa gekauft hatte, bin ich in Tränen ausgebrochen und konnte mich lange nicht beruhigen.

Seit dem Beginn der Großinvasion gab es nur einen einzigen Gegenstand, den ich von zu Hause mitgebracht hatte und jemandem gegeben habe. Es ist die ukrainische Fahne, die mir meine Mutter vor ein paar Jahren geschenkt hatte. Noch im Januar hatte ich sie in meinen Notkoffer gepackt und dann immer mitgenommen, bis ich in Brünn Oksana Stomina aus Mariupol kennenlernte und ihr die Fahne schenkte.

Seitdem hängt die Fahne in Oksanas Wohnung in München und ich stelle mir vor, wie sie nach dem Ende des Krieges bei ihr zu Hause in Mariupol hängen wird. Dieser Gedanke macht mich glücklich.

 

Deine Daryna

 

 

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