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Weiter Schreiben Ukraine - Briefe > Natalka Sniadanko & Tanja Dückers > Der Krieg ist eine Tragödie und sonst nichts – Brief 3

Der Krieg ist eine Tragödie und sonst nichts – Brief 3

Natalka Sniadanko an Tanja Dückers, Marbach, 25. November 2022

Übersetzung: Claudia Dathe aus dem Ukrainischen

„Ich hoffe, dass sich deutsche und ukrainische Autorinnen und Autoren häufiger auf gemeinsamen Veranstaltungen begegnen, sich austauschen und gemeinsame Projekte gestalten.“, Natalka Sniadanko © Andreas Krufczik

 

Liebe Tanja,

ich bin Dir unglaublich dankbar für Deinen so überaus empathischen und kenntnisreichen Brief, aus dem deutlich wird, wie gut Du Dich in andere hineinversetzen und wie genau Du die Lücken im gegenseitigen Verständnis der Deutschen und Ukrainer übereinander analysieren kannst. Das, was die ukrainischen Geflüchteten hier in Deutschland wahrscheinlich am meisten aufbringt, könnte ich kaum besser formulieren. Ich war zum Glück bislang noch nicht mit prorussisch eingestellten Deutschen konfrontiert, aber früher, noch vor dem Krieg, bin ich mit vielen von ihnen im Gespräch gewesen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre Position genau so ist, wie Du schreibst.

Glücklicherweise bin ich hier wirklich an einem Ort gelandet, wo ich niemandem erklären muss, dass Waffen für die Ukraine derzeit keine Bedrohung für den Frieden darstellen, sondern ihn im Gegenteil retten, und dass die postimperialen kulturellen Narrative geändert werden müssen. Ich fühle mich also quasi wie auf einer Insel Gleichgesinnter in einem Meer von Menschen, die sich über die Preissteigerungen erbosen, die Geflüchteten satthaben und die nicht einmal ihren Literaturkanon erweitern wollen, von einer kompletten Revision gar nicht zu reden.

Ein Problem haben wir beide allerdings bislang nicht bedacht, dabei ist es gerade dabei, die Sorgen um die Wirtschaftskrise und das Ansteigen der Gaspreise zu verdrängen. Ich meine die zunehmende Gleichgültigkeit und Nachrichtenmüdigkeit. In meinem Umfeld höre ich immer öfter von Leuten, dass sie die Nachrichten – insbesondere aus der Ukraine – nicht mehr sehen können. Die unausgesetzten Bilder von Zerstörung und Mord schockieren nicht mehr, die Leute werden ihrer überdrüssig. Das ist durchaus normal, denn die Menschen hier in Deutschland haben ein anderes Leben, sie müssen sich keine Sorgen darum machen, ob vielleicht morgen der Strom abgeschaltet wird und sie nicht arbeiten können, sie müssen keine Trinkwasservorräte anlegen und sich keine Gedanken darüber machen, wie sie ihre Wohnungen heizen können, wenn es keinen Strom gibt und die Heizkörper kalt bleiben. Die Gleichgültigkeit und Ermüdung sind also durchaus verständlich.

Ich finde, die Tatsache, dass man sich an den Krieg gewöhnen kann, ist viel schlimmer als die hitzigen Debatten darüber, ob es im jetzigen Moment richtig und zielführend ist, gemeinsame Kulturveranstaltungen mit Ukrainern und oppositionellen russischen Künstlern durchzuführen, ob man gegenwärtig Übersetzungen russischer Gegenwartsliteratur veröffentlichen sollte, ob die Auswahl auch politische Kriterien berücksichtigen soll, ob man sich dafür schämen muss, dass über die Ukraine so wenig bekannt ist, und dergleichen mehr. Die Menschen wollen am liebsten alles vergessen, was da irgendwo bei Donezk vor sich geht, wollen nichts hören, nichts wissen, nichts sehen. Sich einfach nur dafür interessieren, ob es heute geschneit hat, und allmählich den nächsten Urlaub planen. Ich kann ihnen das nicht mal verdenken, ich würde ja selbst nichts lieber tun, als all das zu vergessen, morgen früh aufzuwachen und zu sehen, dass alles nur ein böser Traum war; dass ich in Marbach bin, weil ich ein Stipendium habe, dass ich mir Archivmaterialien anschaue und einen Blog darüber schreibe, wie ich im Nachlass von Paul Celan, der hier in Marbach liegt, Lyrikbände von Emma Andijewska gefunden habe, die sie für Celan signiert hat. Ich schreibe den Blog und hoffe, dass es außer mir noch andere Menschen berührt, wenn sie erfahren, dass Andijewska und Celan sich 1968 getroffen haben, dass jemand sich dafür interessiert und dass ich keine Gewissensbisse haben muss, wenn ich mich mit solchen Dingen befasse und darüber schreibe, während andernorts Kinder sterben und alte Menschen in der Kälte erfrieren.

Wenn wir nämlich über solche Fragen nicht nachdenken und nicht darüber schreiben, wie wollen wir dann die Lücken im Wissen über die Ukraine schließen, von denen wir beide gesprochen haben? Ich möchte nicht nur den Deutschen die Schuld an diesen Lücken geben. Natürlich lagen viele Dinge auf der Hand, man hätte sich nur kritischer damit auseinandersetzen müssen und nicht einfach blind dem jahrzehntelang diktierten sowjetischen Narrativ folgen dürfen. Du erwähnst die folgenden Fakten: das fehlende Bewusstsein darüber, dass die Ukrainer am meisten unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten haben, dass die Ukraine eines der größten europäischen Länder ist, dass ihre Geschichte und Kultur schon wesentlich länger existieren als die russische Geschichte und die russische Literatursprache, dass die Kyjiwer Rus nichts mit Russland zu tun hat und vor allem nicht die Wiege dreier Brudervölker ist, auch wenn uns die Kreml-Propagandisten und Geschichtsverdreher das unbedingt weismachen wollen. Das und noch vieles andere mehr.

Das Problem liegt darin, dass die Europäer die Ukraine so lange ausgeblendet haben. Das entspringt einem komplizierten Geflecht aus Ursachen und Folgen, und um genau zu analysieren, wie es dazu gekommen ist, reicht ein kurzer Brief wie dieser nicht aus. Aber ich denke, jetzt ist auch nicht die richtige Zeit, um nach den Ursachen zu forschen und nach den Schuldigen zu fragen. Viel wichtiger ist es jetzt, diesen Zustand zu ändern.

Du hast mich gefragt, ob ich die deutschen Nachrichten satthabe. Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, sie geben mir Stoff zum Nachdenken und liefern Ideen, wie man Argumente anders formulieren und die eigenen Leser und Zuhörer dazu bringen könnte, sich nicht länger von der Propaganda berieseln zu lassen, sondern mit einer kritischen Haltung Informationen zu recherchieren. Der Informationskrieg ist ein Teil des realen Krieges, der eine Teil lässt sich ohne den anderen nicht gewinnen. Deswegen darf man jetzt gerade nicht die Hände in den Schoß legen und sich den Nachrichten, der Hoffnungslosigkeit, dem Winter, der Depression und den fehlenden Vitaminen ergeben.

Ich glaube an die Kraft einzelner Menschen. Solcher wie Du zum Beispiel. Du wartest nicht, bis sich das Narrativ der deutschen Politik zum Besseren wendet, Du stellst einfach Schokolade her, verkaufst sie und schickst das Geld in die Ukraine. Du nutzt einfach alle Orte, an denen Menschen Dir zuhören, um etwas über die Ukraine zu erzählen, um die weißen Flecken und die Lücken im Wissen übereinander zu schließen. Du hilfst einfach denen, die Du kennst, mit dem, was du hast. Du lässt nicht nach, Du vergisst nicht, Du schottest Dich nicht ab, obwohl Du vielleicht auch genügend eigene Probleme hast. So ähnlich machen es auch die Freiwilligen, die einfach die notwendigen Sachen für die Armee zusammentragen, anstatt sich über unglückliche Äußerungen oder Entscheidungen von Politikern oder die fehlende Empathie von ausgebrannten und erschöpften Mitbürgern aufzuregen.

Ich gehöre nicht zu den Menschen, die an den Wert von Kriegserfahrungen glauben. Für mich ist der Krieg eine Tragödie und sonst nichts. Ein schwarzes Loch in der Zeit, das einfach ein Loch bleibt.

Ich hoffe trotzdem sehr, dass auch über den Krieg hinaus solche einzelnen und auch komplexen Kooperationsprojekte, vor allem im Bereich der Kultur, fortgeführt werden, dass die Beseitigung von weißen Flecken und das Schließen von Wissenslücken anhält. Ich hoffe sehr, dass in den Regalen der deutschen Buchhandlungen schon bald bedeutend mehr Übersetzungen ukrainischer Bücher stehen als bisher. Und dass in der Ukraine mehr Übersetzungen aus dem Deutschen erscheinen. Ich hoffe, dass staatliche Übersetzungsförderprogramme aufgelegt werden, die die Umsetzung solcher Projekte erleichtern. Ich hoffe, dass sich deutsche und ukrainische Autorinnen und Autoren häufiger auf gemeinsamen Veranstaltungen begegnen, sich austauschen und gemeinsame Projekte gestalten.

Das alles hat es vor dem Krieg auch schon gegeben, ich träume einfach davon, dass es zunimmt und dass solche Foren dauerhaft institutionell unterstützt werden.

Ich träume davon, dass in den deutschen Nachrichten regelmäßig über die Ukraine berichtet wird, dass aus den verschiedensten Bereichen berichtet wird und die Ukraine anders als bisher nicht nur dann in die Schlagzeilen kommt, wenn etwas Außergewöhnliches passiert, wie etwa die Reaktorkatastrophe in Tschornobyl, die Toten auf dem Maidan oder der Krieg. Ich träume davon, dass man an den Slawistik-Instituten der deutschen Universitäten endlich auch ein vollwertiges Ukrainistik-Studium absolvieren kann und Ukraine-Studien auch in anderen Fächern ihren Platz finden. Ich hoffe, dass die zukünftigen Ukrainistik-Lehrstühle vom Niveau her mit den Germanistik-Lehrstühlen in der Ukraine mithalten können. Ich möchte gern glauben, dass die ukrainischen Schulabgänger schon bald direkt nach der Schule ein Studium an einer europäischen Universität aufnehmen können und dass die ukrainischen Hochschulzugangsprüfungen dem deutschen Abitur gleichgestellt werden. An den ukrainischen Schulen hat die Reform schon begonnen, sie muss nur noch zu Ende gebracht werden. Ich stelle mir vor, dass die Ukrainer bald schon frei entscheiden können, in welchem EU-Land sie entsprechend ihren Qualifikationen und Vorlieben leben und arbeiten wollen und nicht mehr all die erniedrigenden bürokratischen Prozeduren über sich ergehen lassen müssen, denen Fachleute, die keine Staatsbürgerschaft eines EU-Staates haben, im Moment noch ausgesetzt sind. Und noch mehr hoffe ich, dass die Ukraine zu einem attraktiven Arbeitsmarkt für Fachkräfte aus aller Welt wird und für jene, die nach dem Krieg den Wiederaufbau des Landes und der Wirtschaft unterstützen wollen, attraktive Arbeitsbedingungen schafft. Am sehnlichsten jedoch wünsche ich mir das, womit wir unser Gespräch begonnen haben: dass wir Empathie zeigen, dass die Empathie möglichst bald überall zur Lingua franca wird und die Sprache der Ultimaten, Drohungen und Raketenangriffe ein für alle Mal ersetzt. Das ist eigentlich fast ein Weihnachtswunsch.

Liebe Tanja, danke für Deine Briefe und für alles andere, Du weißt schon, wofür.

P.S. Ich mag am liebsten Zartbitter.

 

 

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