Menu
Suche
Weiter Schreiben ist ein Projekt
von WIR MACHEN DAS

> Einfache Sprache
Logo Weiter Schreiben
Menu
Weiter Schreiben Ukraine - Briefe > Natalka Sniadanko & Tanja Dückers > Unsere lückenhafte Aufarbeitung - Brief 2

Unsere lückenhafte Aufarbeitung – Brief 2

Tanja Dückers an Natalka Sniadanko, Madison, 10. Oktober 2022

Übersetzung: Sofiya Onufriv ins Ukrainische

Bild zum Brief von Tanja an Natalka. Eine ukrainische Flagge in einem US Laden mit der Aufschrift: We stand with Ukraine.
Liebe Natalka, ich sehe hier in den USA übrigens täglich Zeichen der Unterstützung für die Ukraine. Tanja Dückers. © Privat

 

Liebe Natalka,

danke für Deinen Brief, der mich sehr berührt hat.

Du schreibst darüber, dass man etwas oft erst zu schätzen weiß, wenn man es verloren hat. Konkret sprichst Du davon, ein Zuhause haben zu können. Ich finde Deinen Hinweis auf das nur scheinbar Selbstverständliche einen wichtigen Impuls – gerade in einem Land wie Deutschland, dessen Bewohner*innen oft eine hohe Anspruchshaltung an den Tag legen.

Körperliche Unversehrtheit, ein Dach über dem Kopf, die berühmten „eigenen vier Wände“, mehr noch, ein schönes Zuhause nach eigenem Geschmack, Wohlstand und individuelle Freiheit, garantierte demokratische Grundrechte und Frieden werden nach wie vor von vielen für selbstverständlich gehalten.

Ich wünsche Dir so sehr, dass Dein – derzeitiger – Heimatverlust temporärer Natur ist!

Seitdem wir in Kontakt sind, seitdem ich mit anderen Frauen aus der Ukraine in Kontakt bin, von denen einige Hals über Kopf fliehen mussten, betrachte ich unsere Wohnung mit ganz anderen Augen. Was mich früher hin und wieder genervt hat – unaufgeräumte Ecken, Risse in den Wänden, ein ungünstig geschnittenes Durchgangszimmer –, wird jetzt mit großer Zärtlichkeit von mir besehen. Plötzlich erfahre ich meine Wohnung anders, nicht mehr als Ort von so etwas reichlich Ambitioniertem wie „Selbstverwirklichung“, sondern schlicht als Schutzzone, deren Vorhandensein sich wie ein Mantel um mich legt.

Ich habe viel im Ausland gelebt, jetzt gerade bin ich temporär in den USA, doch ich habe immer „einen Koffer in Berlin“ gehabt und bin nun auch bald wieder zurück – zu Hause. Meine Reise- und Abenteuerlust war immer eng verknüpft mit diesem gedanklichen, emotionalen und auch ganz praktischen Rückhalt: dem Wissen um meine Wohnung in Berlin. Meine Verfasstheit wäre eine ganz andere, wenn ich auf dem Transatlantikflug denken müsste: Keine Ahnung, wann ich zurückkommen kann, wer dann in meiner Wohnung lebt und wie es dann in Berlin so aussieht.

Ich bewundere, wie Du Dein Leben jetzt weiter gestaltest, Dich um Schule bzw. die Uni Deiner Kinder, ihr Wohlergehen kümmerst, wie Du reist, arbeitest, schreibst, auftrittst, Interviews gibst, Dich informierst, wach und engagiert bleibst … well, funktionierst: ohne diesen Hintergrund, dieses seelische Polster, nur mit einem Home away from Home in Deutschland jetzt.

Nun bist Du in Marbach erst mal in physischer Sicherheit. Aber zum einen hast Du Sorgen um Deinen weiterhin in der Ukraine lebenden Mann. Zum anderen frage ich mich: Wie fühlst Du Dich, jenseits der konkreten Bedrohung für Dich, in Marbach, wie ist dort Dein „geistiges Zuhause“? Wie nimmst Du Deine Umgebung, dazu gehört auch der deutschsprachige Kulturbetrieb, dessen Teil Du nun bist, wahr?

Du hast mal geschrieben, man würde Dir hier nun Deine Haltung zu Russland, Deine Unterstützung des Boykotts der russischen Kultur zum Vorwurf machen und wenig Verständnis dafür haben, dass Du derzeit nicht gern mit russischen Schriftsteller*innen oder Musiker*innen auftreten möchtest. Vermisst Du hier Verständnis, Zurückhaltung im Urteil?

Und: Im Moment wird ja hier viel geklagt, viel gejammert. Man fürchtet sich vor dem Winter, vor einer hohen Gasrechnung, hohen Lebensmittelpreisen, möglichen Engpässen, vor einem wirtschaftlichen Einbruch (diskutiert werden ein bis zwei Prozent).

Gerade las ich allerdings, dass der Rückgang der Wirtschaftsleistung in der Ukraine in diesem Jahr 39 Prozent betragen wird – hauptsächlich aufgrund der Zerstörung der Infrastruktur und natürlich auch durch die Fluchtbewegungen, im Land selbst wie außerhalb. Menschen sind im Krieg statt am Arbeitsplatz, sind geflohen – oder tot.

Hohe Gasrechnung? In der Ukraine haben viele Menschen ganz real den Tod durch Erfrieren zu befürchten. Und die Engpässe sind ganz anderer Natur als in Deutschland, wenn vielleicht mal das Lieblingssonnenblumenöl nicht im Regal steht oder man eine längere Lieferzeit für ein technisches Gerät in Kauf nehmen muss.

In einem Interview sagtest Du, dass Du die Deutschen im Allgemeinen als sehr hilfsbereit empfindest und ihnen sehr dankbar seist. Allerdings hast Du auch angemerkt, dass viele Deutsche, denen Du seit dem 24. Februar begegnet bist, wenig Ahnung von Deinem Heimatland hätten. Sie hätten stets von „dieser vormaligen Sowjetrepublik“ gesprochen und die Ukraine gerade mal so grob auf einer Landkarte zeigen können (sie waren dabei immer wieder erstaunt, wie groß die Ukraine doch sei: fast doppelt so groß wie Deutschland).

Wie gehst Du mit dieser schizoiden Situation um?

Du lebst nun im beschaulich-schönen Marbach, bist ein wenig angewiesen auf die „deutsche Hilfsbereitschaft“, was sicher nicht immer eine angenehme Situation ist, und bekommst aber auch all die selbstbezüglichen Jammer-Headlines mit und die Kritik an der Unterstützung der Ukraine (Du sprichst ja sehr gut Deutsch, verstehst das alles). Die aus Kiew stammende und seit Ende Februar in Berlin lebende Theaterregisseurin Anastasiia Kosodii schrieb mir vor einigen Wochen, sie könne die deutschen Nachrichten nicht mehr ertragen. Wie geht es Dir damit? Und ich frage mich, wie gehst Du mit dem Mangel an Empathie um? Während Ukrainer*innen mitten in Europa um ihr Leben fürchten müssen, zum Teil ihre Liebsten verloren haben, rechnet hier der deutsche Tüftelzahlenfuchs – ganz in seinem Element – auf Heller und Pfennig aus, was uns „der Spaß“ jetzt kostet.

Daran schließt sich an: Was bekommst Du von den „Putinversteher*innen“ mit, dem selbstbewusst zur Schau gestellten Mangel an Wissen? Viele Kriegsschuldrelativierer*innen sind schlicht nicht richtig informiert, halluzinieren eine „Bedrohung“ Russlands durch die Ukraine oder die EU herbei, die zuvor bestanden habe, als hätte es ernsthaft die Gefahr gegeben, dass nach der EU-Osterweiterung eines der neu aufgenommenen Länder, sei es Polen, Rumänien oder die Baltischen Republiken, Russland angreifen würde … Ein vorgeschobenes Argument Russlands, um die eigene Aggression zu rechtfertigen, und recht durchschaubar eine Projektion. Erlebst Du oft solche Situationen und Gespräche? Zum Beispiel nach Lesungen?

Wie gehst Du mit der nun offenkundig gewordenen Tatsache um, dass die Beeinflussung der Deutschen – keineswegs nur der Ostdeutschen – durch Russland leider keine Chimäre und keine bange Zukunftsvision ist, sondern ganz konkret in den letzten Jahrzehnten tief in unser Denken und Handeln implementiert wurde?

Ein Beispiel: Im Zweiten Weltkrieg fanden einige der verheerendsten Schlachten auf dem Boden der Ukraine statt. Nirgendwo, außer in Polen, starben im Verhältnis zur Bevölkerung so viele Menschen wie in der Ukraine. Dennoch erzählen uns heute Politiker*innen, dass wir nun für Russland Verständnis haben müssten, wir trügen eine historische Verantwortung gegenüber Russland – wohlgemerkt nicht gegenüber der Ukraine! – aufgrund von Hitlers Feldzug und den Verheerungen, die die Wehrmacht in Russland angerichtet hätte. Es ist, als hätte man die Ukraine hier als ein zentrales Angriffsgebiet der Deutschen nicht auf dem Schirm. Wie kann so etwas möglich sein?

Und, Du sprachst selber schon davon: Die Deutschen haben im Allgemeinen einen hohen Respekt gegenüber den Leistungen der russischen Kultur. Aber sie übernehmen auch im Kultursektor und in der Bildung genau die kolonialistische Haltung, die Russland gegenüber seinen sogenannten „kleineren Brüdervölkern“ einnimmt. Nur so konnte man hierzulande – bis heute – in der Schule lernen, dass Gogol ein russischer Autor sei, und dabei gleichzeitig keine Ahnung von ukrainischer Kultur haben, als gäbe es diese nicht oder als bestünde sie nur aus Folklore. Das große russisch-imperiale Narrativ der überlegenen Kultur und Sprache, die viele kleinere, unbedeutende, untergeordnete Seitenschnörkel miteinschließe, haben wir gern übernommen. Wir hielten ja auch das Ukrainische für eine Art Dialekt des Russischen. Das gibt mir alles sehr zu denken, denn in Deutschland ist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine intensive, bisweilen rigorose und durchaus sehr selbstkritische Aufklärungsarbeit betrieben worden – eine, die, wie ich in den USA immer wieder feststellen kann, oft im Ausland bewundert wird.

Diskussionen über den Genozid, den Vernichtungsfeldzug, die Rolle der Wehrmacht (Streit um die Wehrmacht-Ausstellung von Hannes Heer) oder über das Wissen eines Albert Speer, der in Nürnberg als einziger Hauptangeklagter nicht zum Tode verurteilt wurde, sind engagiert in der Öffentlichkeit geführt worden. Doch die intensive Selbstbeschäftigung hat nicht unbedingt dazu geführt, den eigenen undifferenzierten Blick auf die Sowjetunion in Frage zu stellen. Im Kalten Krieg wurde die Sowjetunion als monolithischer Block wahrgenommen, in dem den Teilstaaten auch von uns keine Bedeutung zugebilligt wurde. Im Westen hat man vieles an der Sowjetunion kritisiert, aber zum Umgang mit den einverleibten Teilstaaten hatte man wenig zu sagen gehabt. Wir haben gewissermaßen die Selbstdarstellung der Sowjetunion und später Russlands in Bezug auf ihr eigenes Gefüge bzw. die Nachbarstaaten („Bruderstaaten“) übernommen. Und da sehe ich, bei vielen anderen mentalitätsgeschichtlichen Unterschieden, durchaus eine Gemeinsamkeit in der ostdeutschen und der westdeutschen Sichtweise (zumindest was Teile der westdeutschen Linken angeht), nämlich die Blindheit gegenüber dem imperialen Gestus, der kolonialen Haltung, die die Sowjetunion – und zuvor auch schon das Zarenreich – auch im Inneren prägte.

Die Schriftstellerkollegin Annett Gröschner brachte es – für die Innenperspektive der DDR – im Sommer bei einer Veranstaltung im Brecht-Haus mit Blick auf ihre Kindheit in Magdeburg auf den Punkt: „Wir wurden zum Antiimperialismus erzogen, dabei waren wir selber Teil eines Imperiums.“

Ich frage mich, wie Du – Du kennst Deutschland gut, Du hast in Freiburg studiert – mit dieser lückenhaften Aufarbeitung hier nun umgehst, jetzt, wo Du nicht zum Studium oder mal auf Lesereise in Deutschland bist, sondern erst einmal auf unabsehbare Zeit. Womit wir wieder beim Thema Heimat und Zuhause wären …

Nun könnten noch viele Fragezeichen folgen. Aber ich setze für heute mal einen Punkt.

Sei gedrückt.

Tanja

  1. S. Bald ist Adventszeit. Magst Du lieber Vollmilchschokolade oder dunkle?

 

 

Weiter Schreiben Ukraine ist ein Projekt von WIR MACHEN DAS.
Gefördert von:

 

 

 

Autor*innen

Datenschutzerklärung

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner