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Wo ist denn mein Zuhause? – Brief 1

Natalka Sniadanko an Tanja Dückers, Marbach, 17. Oktober 2022

Übersetzung: Claudia Dathe aus dem Ukrainischen

Porträt von Natalka © Katheryna Slipchenko
Natalka Sniadanko in Lemberg vor ein paar Jahren © Katheryna Slipchenko

 

Du, liebe Tanja, schreibst, dass Du Dir gar nicht vorstellen kannst, wie das ist, wenn man so weit von zu Hause weg ist, keine Freunde treffen, den eigenen Mann nicht sehen kann. Ich kann mir das ehrlich gesagt auch nicht vorstellen. Deswegen versuche ich, an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel daran, wo jetzt mein Zuhause ist. Darüber, wie wichtig Dinge, Begriffe und Ereignisse sind, denken wir oft erst dann nach, wenn wir sie verloren haben. Oder die Gefahr droht, sie zu verlieren. Früher habe ich selten darüber nachgedacht, was das einfache Wort „Zuhause“ für mich bedeutet. Noch seltener habe ich darüber nachgedacht, wo ich mich eigentlich zu Hause fühle.

Bislang war die Antwort auf die Frage, wo mein Zuhause ist, ganz einfach: in der Ukraine, genauer gesagt in Lwiw. Was nicht heißt, dass ich immer nur dort gelebt habe. Ganz und gar nicht, ich bin viel gereist und habe oft für mehrere Wochen, Monate oder auch Jahre den Aufenthaltsort gewechselt. Manchmal habe ich auch überlegt, ob ich nicht weggehen und in einem anderen Land ein neues Leben beginnen sollte. Aus Neugier, ökonomischen Gründen oder um mich und meine Kinder in Sicherheit zu wissen. Aber ich habe mich immer dagegen entschieden, und so blieb mein Zuhause an dem gewohnten Ort, in der Stadt, dem Land.

Geändert haben sich nur die Adresse, das Aussehen und die Ausstattung meiner Wohnung und die Zahl der Familienmitglieder. Aber das Zuhause blieb der Ort, an den ich jederzeit zurückkehren und für immer bleiben konnte. An dem ich in Sicherheit und von vertrauten Menschen umgeben war. Für das ich mich selbstbestimmt, nicht gezwungenermaßen, nicht unter dem Druck der Umstände entschieden habe.

Grundsätzlich kann ich auch jetzt zurückkehren. Ich habe mein Zuhause nicht verloren. Habe es noch nicht verloren, um genau zu sein. Das Haus, in dem wir früher gelebt haben, ist noch heil, und auch unsere Wohnung ist nicht beschädigt. In ihr leben jetzt fremde Menschen.

Sie sind Flüchtlinge wie wir. Wie auch wir wissen sie nicht, wie es mit ihnen, wie es mit uns allen weitergeht. Ab und an schlagen in der Nähe unseres Hauses Bomben ein. Zum Glück geschieht das viel seltener als in anderen Regionen meines Landes. Neulich ist es wieder passiert, und das hat nicht nur uns, sondern auch die Welt überrascht. Wenn auf Mykolajiw, Cherson und Mariupol Bomben fallen, erstaunt das niemanden mehr. In Kyjiw und Lwiw schockiert es noch. Und das ist gut so. Es gibt nichts Schlimmeres als die Gewöhnung an den Krieg, daran, dass tagtäglich Menschen getötet werden.

Mehrere Tage lang hatten meine Eltern und Freunde kein Wasser und keinen Strom, die kritische Infrastruktur der Stadt war beschädigt worden. Jetzt funktioniert alles wieder. Bis zum nächsten Mal, das es, worauf wir immer noch unverbesserlich hoffen, eigentlich nicht geben sollte.

Jetzt halte ich jedes Mal inne, wenn ich „Zuhause“ sage. Denke darüber nach, was das Wort jetzt für mich bedeutet: Fühle ich mich gleichzeitig an zwei Orten zu Hause oder fühle ich mich trotz der beiden vorhandenen Behausungen obdachlos?

„Ich bin wieder zu Hause“, sage ich meinen Eltern, wenn ich von einer Reise zurück bin, und dann wissen sie Bescheid. Mein wirkliches Zuhause ist jetzt hier, in Marbach, wo ich in Sicherheit bin, Arbeit und Unterkunft habe, die Kinder zur Schule und zur Uni gehen und sie nicht wegen Raketenangriffen mal online und mal in Präsenz unterrichtet werden. Mein Zuhause ist dort, wo meine Kinder sind. „Ich muss das Buch suchen, ich habe es zu Hause gelassen“, sage ich und meine damit die Wohnung in Lwiw, wo ich alle Dinge und Erinnerungen, wo ich mein altes, unbeschwertes Leben zurückgelassen habe.

Es kann ein Zuhause an verschiedenen Orten geben, das merke ich jetzt, aber das stimmt mich nicht gelassen oder froh. Im Gegenteil, es macht mich nur noch unruhiger. Und ich habe noch ein weiteres, ein virtuelles Zuhause, das sich in den sozialen Medien und in den Nachrichten befindet, die ich mehrmals pro Stunde abrufe, das Gelesene lähmt mich für eine gewisse Zeit, löst in mir zwangsläufig Gefühle von Verzweiflung, Wut und Ohnmacht aus. Mein wirkliches Zuhause liegt in der Idylle einer zauberhaften schwäbischen Kleinstadt, die von den früheren Kriegen nahezu verschont geblieben ist. Und auch jetzt haben sich nur sehr wenige ukrainische Geflüchtete hierher verirrt. Ihre Kinder gehen mit meiner Tochter zur Schule. Oft treffe ich sie auf der Straße, höre ihr Ukrainisch oder Russisch, das sich stark von meinem unterscheidet, denn sie haben im Osten der Ukraine gelebt und ich im Westen.

Ich bin in diesen Tagen durch die Innenstadt von Breslau gebummelt. Hübsch beleuchtete Häuser, froh gelaunte Menschen kommen oder gehen oder schlendern entspannt und erholen sich von den Anstrengungen des Alltags. Ich habe mich unter sie gemischt und fühlte mich von der gleichen sorglosen Wirklichkeit umgeben, doch plötzlich empfand ich ihnen gegenüber beinahe einen kindlichen Neid darauf, dass sie irgendwann nach Hause gehen würden, wo ihre Lieben auf sie warteten.

Darauf, dass sie wissen, wo ihr Zuhause ist, und dass sie nicht jedes Mal darüber nachdenken müssen. Dass sie selbst entscheiden können, wo sie leben wollen. Dass sie wissen, wohin sie zurückkehren, wenn sie nach der Arbeit, nach dem Urlaub, nach der Dienstreise heimkommen. Darauf, dass ihre Männer keinem Ausreiseverbot unterliegen, nicht kämpfen müssen, dass sie ihre Frauen und Kinder sehen können und sie sich vielleicht nicht bewusst sind – wie wir uns früher auch nicht bewusst waren –, was für ein unerreichbarer Luxus das plötzlich sein kann.

In Breslau war ich auf einem Literaturfestival, zu dem ich von einem anderen Literaturfestival gekommen war und von dem aus ich zum nächsten fuhr. In jeder Stadt stieg ich abends im Hotel ab. Mein jetziges Zuhause ist auch eher Hotel als Wohnung. Ich kehre jedes Mal hierher zurück und finde mich in einer schizophrenen Gleichzeitigkeit einer gespaltenen Wirklichkeit wieder – Frieden und Krieg, Ruhe und Alarm, Sicherheit und Tod, Verkrüppelung und Tragik. Keine der Wirklichkeiten bietet Geborgenheit, keine ist Zuhause.

Der Krieg nimmt uns nicht nur unser Zuhause, vertraute Menschen und Freunde. Er beraubt uns des Vertrauens in die Welt, der Hoffnung, dass sich die schlimmsten Dinge woanders abspielen, du und deine Nächsten jetzt und hier aber verschont bleiben. Weil du doch hier zu Hause bist und deine eigenen vier Wände dich schützen.

Der Krieg zerstört diese Wände, zerstört die Wege, die dorthin führen, zerstört die menschlichen Beziehungen, sich früher nahestehende Menschen werden einander fremd und erkennen sich nicht wieder, vertrauen sich nicht mehr, können sich nicht mehr verstehen, der Krieg zerstört die Körper und die Psyche, er hinterlässt Spuren, die sich nicht tilgen lassen, der Krieg zerstört das Wichtigste – die Fähigkeit, sich sicher und geborgen zu fühlen, die Fähigkeit, sich zu freuen, den Wunsch, die Zukunft zu planen und zu träumen. In jedem, den der Krieg erfasst, stirbt etwas ganz Wichtiges, selbst wenn das auf den ersten Blick unbemerkt bleibt.

Der Krieg zwingt uns, das Trügerische an unserer Existenz wahrzunehmen, zwingt uns, in die Wirklichkeit einzutreten, die sich weder ausblenden noch akzeptieren lässt. Der Krieg zwingt uns, unsere zeitliche Begrenztheit zu akzeptieren, obwohl gerade sie uns manchmal am meisten Angst macht. Das Vorhandensein eines Zuhauses ist ein zwar trügerischer, aber immerhin wirksamer Schutz gegen die Angst vor der Vergänglichkeit. Deshalb ist es so schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass dein Zuhause in einen einzigen Koffer passt. Wir üben uns in Gelassenheit, machen Pläne, geben Zusagen und merken doch, dass wir an all das eigentlich selbst nicht glauben. Dass wir die frühere Gewissheit, dass es ein echtes Zuhause als sicheren und geschützten Ort, an den wir immer wieder zurückkehren können und Vertrautes und Gewohntes anstelle von Bedrohlichem und Unerwünschtem sehen, verloren haben.

 

 

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