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Weiter Schreiben Ukraine - Briefe > Natalka Sniadanko & Tanja Dückers > Die Ukraine, das zweitgrößte Land Europas, wurde viel zu lange übersehen - Brief 4

Die Ukraine, das zweitgrößte Land Europas, wurde viel zu lange übersehen – Brief 4

Tanja Dückers an Natalka Sniadanko, Berlin, 20. Dezember 2022

In der Literatur des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel bei Iwan Franko, gibt es in der Tat viele Lieder über die Schönheit der ukrainischen Landschaft. Aber diese Erinnerung an die Schönheit ist immer mit einem Verlustgefühl verbunden.
„In der Literatur des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel bei Iwan Franko, gibt es in der Tat viele Lieder über die Schönheit der ukrainischen Landschaft. Aber diese Erinnerung an die Schönheit ist immer mit einem Verlustgefühl verbunden.“, Tanja Dückers © Serhii Tyaglovsky

 

Liebe Natalka,

vielen Dank für Deinen empathischen, klugen Brief, der mich sehr nachdenklich gemacht hat. Darin schreibst Du über die „zunehmende Gleichgültigkeit und Nachrichtenmüdigkeit“ und stellst fest: „In meinem Umfeld höre ich immer öfter von Leuten, dass sie die Nachrichten – insbesondere aus der Ukraine – nicht mehr sehen können. Die unausgesetzten Bilder von Zerstörung und Mord schockieren nicht mehr, die Leute werden ihrer überdrüssig.“ Es ist furchtbar, dass auch Kriege der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie folgen, dass viele Menschen mal eben „Ukraine“ mit „Katar“ ersetzen. Da denkt man beinahe: „Gut“, dass Butscha sich relativ kurz nach Kriegsbeginn ereignet hat, jetzt würden diese Verbrechen vielleicht weniger aufrütteln. Ich mache jedoch auch die Erfahrung, dass Leute sich genau hierüber Gedanken machen und sagen: Nein, der Angriffskrieg auf die Ukraine darf jetzt nicht zur mentalen Gewohnheit für uns werden.

Über mich hast Du aber ein bisschen zu positiv geschrieben 😉 – nicht, dass Deine Worte mich nicht gefreut hätten. Aber die Anklage, die ich gegen Deutschland richte als ein Land, in dem man zu wenig über die Ukraine wusste und zu lange dem imperialen, großrussischen Narrativ von den untergeordneten Bruderstaaten und -kulturen geglaubt hat, richte ich auch gegen mich selbst. Ich habe als Schreibende, als Intellektuelle, zudem als Osteuropa-Interessierte, ebenso diese Blindheit und Ignoranz an den Tag gelegt.

Zwei Reisen in die Ukraine führten bei mir zu einem gewissen Augenöffnen, was die Autarkie, die Eigenständigkeit der ukrainischen Geschichte, Kultur und Sprache angeht (wie viele Deutsche waren schon in der Ukraine?). Doch obwohl ich „wissensprivilegiert“ war, erzeugten erst die vielen Gespräche, die ich in den vergangenen Monaten mit ukrainischen Kolleginnen und Kollegen geführt habe, ein tieferes Verständnis, ein Umdenken.

Mir scheint, dass Kulturschaffende wie Du, die derzeit in Deutschland leben, einen wichtigen Beitrag dazu leisten, diese klaffende Wissenslücke zu schließen. Im Grunde seid ihr Teil einer großen „Kulturbrücke“, die mit Kriegsbeginn entstanden ist. Diese Brücke hat zwei Richtungen, sie führt auch zurück in die Ukraine: Ich war beeindruckt davon, was die Kiewer Theaterautorin Anastasiia Kosodii bei unserer Veranstaltung im Literaturhaus Berlin neulich erzählte. Nämlich dass viele Mitschnitte von Lesungen, Konzerten, Vernissagen von ukrainischen Kulturschaffenden hier in Deutschland in die entsprechenden ukrainischen Szenen zu Hause gelangen und dort den Menschen Mut machen. Viele Kultureinrichtungen in der Ukraine sind zerstört, viele Künstler*innen im Krieg, auf der Flucht.

Du schreibst einen sehr lesenswerten Blog. Du berichtest darin über Deine Tätigkeit am Marbacher Literaturarchiv, Deine Recherchen, und setzt diese in einen gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Kontext. Zum Beispiel hat Du über den berühmten Bürgerrechtler und Lyriker Wassyl Stus recherchiert (dem Sarah Kirsch, wie Du erwähnt hast, im Jahr 1982 fast jeden Monat geschrieben hat), den ukrainischen Dissidenten, der in russischer Lagerhaft starb bzw. wohl ermordet wurde. Stus war für den Literaturnobelpreis nominiert worden, aber mediale Aufmerksamkeit für einen Literaturnobelpreisträger in Lagerhaft war etwas, was die Sowjets unbedingt vermeiden wollten. Diese denkwürdige Geschichte habe ich nur durch Deinen Blog erfahren. Ich hoffe, dass er viel gelesen wird, denn ich finde ihn hochinformativ. Besonders hat es mich berührt, zu erfahren, wie viele Kontakte zwischen ukrainischen und  deutschen Autor*innen es gab und gibt. So bin ich in Deinem Blog auf die Schriftstellerin Emma Andijewska gestoßen, die im Jahr 1968 Paul Celan begegnet ist. Nicht nur das, Celan besaß von ihr signierte Bücher, er hat sie geschätzt. Und ich erfahre von Dir, dass Emma Andijewska noch lebt, einundneunzigjährig in München. Das wiederum stimmt mich froh und traurig zugleich: Traurig deshalb, weil ich wieder einmal denke, warum wusste ich so lange nichts von dieser aus der Ukraine stammenden, seit Jahrzehnten hier in Deutschland lebenden Kollegin und Künstlerin? Emma Andijewska veröffentlichte 29 Gedichtbände und acht Prosabücher, außerdem malte sie über 9.000 Bilder. Und warum lernen wir im Germanistikstudium (ich habe einen Magister in diesem Fach) nicht etwas mehr über europäische Literaturen? Solche Verbindungen zeigen sich einem dort eher selten auf. Mit Celan habe ich mich im Studium viel befasst. In Deinem Blog schreibst Du: „1991 nahm Emma Andijewska an einem Paul Celan gewidmeten Projekt in Czernowitz teil, das dem Thema Emigration gewidmet war. Es ging um Emigration als innerer Zustand jedes Künstlers, ein Zustand, der ständig zur Bewegung auffordert und nach Orientierung suchen lässt, um ein eigenes Kunst-Universum zu gestalten.“ Du verweist darauf, wie viele innere Reisen Künstler*innen eh unternehmen und wie grenzüberschreitend die künstlerische, eben auch die schriftstellerische Arbeit als solche ist. Erst recht mit Blick auf Dichter*innen wie Celan oder Andijewska, die in vielen Kulturen zu Hause waren – und sind.

Ich nehme an, Du hast Emma Andijewska mal persönlich kennengelernt?

Das bringt mich alles von der Germanistik zur Slawistik in Deutschland. Du schreibst in Deinem Brief über Deine Hoffnung, dass man an den slawistischen Instituten der deutschen Universitäten endlich auch ein vollwertiges Ukrainistikstudium absolvieren kann. Bist Du mal der Slawistin Anna Artwińska begegnet? Sie stammt aus Polen und lehrt in Leipzig Slawistische Literaturwissenschaft (Schwerpunkt Westslawistik). Ich habe mich im Frühjahr lange mit ihr ausgetauscht. Sie hat mir gesagt: „Die Osteuropaforschung hat sich zu lange nur auf Russland fokussiert“, und: „An vielen deutschen Universitäten ist die Ostslawistik de facto eine Russistik. Die Westslawistik ist etwas emanzipierter; man kann immerhin in Deutschland Polonistik oder Bohemistik studieren.“ Aber sie verzeichnet in Leipzig nach dem Kriegsbeginn ein gestiegenes Interesse an der ukrainischen und auch an der belarussischen Sprache und Literatur. Allerdings würden die Fachkräfte für Ukrainistik fehlen, curricular sei kaum etwas verankert. Dabei fällt mir ein, was Jurko Prochasko in Lwiw aufregte, als ich mich ebenfalls im Frühjahr mit ihm austauschte: Für die Ukraine interessiere man sich immer erst, wenn dramatische Bilder im Fernsehen auftauchen, Tschernobyl, Maidan, Krim, Krieg. Auch Anna Artwińska meinte, es sei „traurig, dass all dies erst jetzt zu Bewusstsein kommt. Die Ukraine ist das zweitgrößte Land Europas“. Wir haben dann weiter über die Gründe für dieses „Übersehen“ gesprochen, und sie meinte, es fehle hierzulande an Bewusstsein dafür, dass die Sowjetunion nicht mit Russland gleichgesetzt werden kann; man wisse kaum etwas über Eigenständigkeit der Geschichte und Kultur der Ukraine, man differenziere viel zu wenig zwischen den postsowjetischen Nachfolgestaaten. Ich wollte dann von ihr wissen, ob es trotz all der Fremdherrschaften eine innere Verbindungslinie, eine Kohärenz in der ukrainischen Literatur und Kultur gegeben habe. Sie gab mir, wie ich fand, eine spannende Antwort: Sie sehe einen „roten Faden“ im sehr subtilen Reagieren auf Fremdherrschaften und eine besondere Sensibilität dafür, sich als Nation in Bezug auf verschiedene Kulturräume, Sprachen, politische Systeme stets aufs Neue behaupten zu müssen. Das sei nicht ohne Einfluss geblieben, denn Literatur entstehe nicht in einem leeren Raum. Schon bei den ukrainischen Romantiker*innen fände man, meint Artwińska, eine Auseinandersetzung mit der eigenen subalternen Position. Die ukrainischen Autor*innen wissen, dass sie sich einen Raum zum Sprechen erst schaffen müssen. Das sei ein festes Motiv und ziehe sich durch verschiedene Epochen und Ästhetiken. Aber der Grundgedanke, der Grundtenor bleibe bestehen. In der Literatur des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel bei Iwan Franko, gibt es in der Tat viele Lieder über die Schönheit der ukrainischen Landschaft. Aber diese Erinnerung an die Schönheit ist immer mit einem Verlustgefühl verbunden. Die berühmte zeitgenössische ukrainische Autorin Oksana Sabuschko tritt gern selbstironisch auf, spielt mit Minderwertigkeitskomplexen und verwendet in ihren Texten eine selbst-orientalisierende Perspektive. Dies sei, so Artwińska, auch eine Art Reaktion darauf, dass man nicht wahrgenommen wird.

Siehst Du das ähnlich? Kannst Du mit diesem Versuch, solch einen „roten Faden“ in der ukrainischen Literatur zu finden, etwas anfangen? Wie würdest Du Deine eigenen Romane in diesem Zusammenhang betrachten?

Ich könnte noch so viel schreiben. Nun steht Weihnachten vor der Tür. Gerade hörte ich im Radio, dass immer weniger Menschen in der Ukraine orthodoxe Weihnachten feiern wollen, es gibt einen Trend zum Feiern am 24. Dezember. Wann und wie wirst Du mit Deinen Kindern zusammen sein – ich weiß nicht, ob Feiern der richtige Ausdruck ist, wenn der Ehemann und Vater im Krieg ist, an Weihnachten. Und überhaupt – .

Bevor ich es vergesse: In dem kleinen gelben Weihnachtspäckchen ist eine Schokolade für Dich. Eine dunkle.

Viele liebe Grüße

Tanja

 

 

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