Welche Worte gegen einen Ozean der Finsternis? – Brief 4
Aristide Tarnagda an Rabab Haidar, Tenkodogo, 09. Dezember 2022
Übersetzung: Claudia Steinitz aus dem Französischen
Liebe Rabab,
ich erhole mich langsam von einer Malaria, vor allem aber von der großen Müdigkeit, die sich in den letzten Jahren angesammelt hat. Alles folgt so schnell aufeinander und ich schaffe es nicht, mir Zeit zum Ausruhen zu nehmen. Und Du? Wie geht es Dir? Hier hat der Harmattan den Monsun abgelöst und der Morgenhimmel ist blass. Die Nächte sind ungeduldig und die Zurückhaltung der Sonne lässt unsere Körper vor Kälte zittern.
Liebe Rabab,
Du meinst, „es gibt nicht die richtigen Worte für jemanden, der verheerende Verluste erlitten hat“? In dem, was Du sagst, liegt eine niederschmetternde Wahrheit.
Welche richtigen Worte sagt man einer Frau, deren Würde erbarmungslos verwüstet wurde, indem man ihren Schwiegervater zwang, vor den Augen ihres Mannes und ihrer Kinder mit ihr zu schlafen?
Welche richtigen Worte sagt man einem Mann, dem man vor den ohnmächtigen Blicken seiner Kinder und seiner Frau ins Gesicht spuckte?
Welche richtigen Worte sagt man einem Kind, das ohnmächtig mit ansehen muss, wie sein Vater von anderen Männern gepfählt wurde?
Ja, welche Worte gibt es in einer plötzlich von schwarzer Gewalt getränkten Welt? Welche Worte gegen einen Ozean der Finsternis?
Ich lese Deinen Satz und sehe mich wieder inmitten der Kinder, Frauen und Männer, die unserer Einladung gefolgt waren, bei Theater, Musik, Tanz, Malerei, Geschichten und Gesang mit uns zusammenzukommen. Ich lese Deinen Satz, und mir kommen Zweifel: Bin ich am richtigen Platz? Brauchen diese Menschen das? Ist das nicht etwas für heitere Menschen? Aber ich war mit den Kameraden schon inmitten von gestürzten Menschen, deren Köpfe kaum aus den Gräben hervorschauten. Die ihre leeren Augen auf uns richteten. Wir konnten den Blick nicht abwenden. Also sind wir dageblieben und zu unserer Überraschung haben sich ganz langsam die Zungen gelöst. Plötzlich blitzten in ihren Gesichtern die beim Lachen entblößten Zähne in der Dunkelheit. Sie richteten sich auf. Sie hoben die Köpfe aus den Gräben. Mit Mühe zwar, aber sie richteten sich auf. Da habe ich verstanden, dass der Mensch eine unerschöpfliche Kraft in sich trägt und dass er die Fähigkeit besitzt, sich nach einem Sturz aufzurichten, wenn sich ihm eine Hand voller Zärtlichkeit entgegenstreckt. Vielleicht ist die ausgestreckte Hand kein Wort. Vielleicht ist es ein langes Schweigen. Vielleicht ist es ein sanfter Blick, der sich auf die blutende Wunde richtet. Vielleicht ist es ein gemeinsam gesungenes Lied, ein Tanz. Vielleicht ist es eine geteilte Einsamkeit. Vielleicht ist es eine Malerei an einer Wand. Wenn die Menschen verheerende Verluste erlitten haben, müssen wir ihnen vielleicht zuhören, nicht mit ihnen sprechen. Léonora Miano schreibt in ihrem letzten Roman Stardust: „Vielleicht scheitert das Wort daran, zu befreien, schafft seine performative Kraft das Unglück neu.“ Dann müssen wir uns die Zeit zum Zuhören nehmen. Den vom Unglück Verfolgten unser Ohr leihen. Ihnen das Kostbarste und Schönste anbieten, was wir haben: unsere Anwesenheit. Denn nichts ist schöner, beruhigender für einen Menschen als die Anwesenheit eines anderen. Ja, ein Mensch verletzt einen Menschen. Aber es ist auch ein Mensch, der den verletzten Menschen heilt. Das ist unser Schicksal. Das habe ich aus dem Abenteuer von Terre ceinte[1] gelernt. Vielleicht irre ich mich. Aber man wird mich noch lange nicht davon abbringen.
Liebe Rabab,
die Schönheit ist eine Notwendigkeit. Sie bestimmt unsere Menschlichkeit. Ja, sie erschafft manche Mythen. Also müssen wir diese Mythen mit Leben erfüllen. Ich glaube, alles entsteht aus dem Traum. Aber es heißt ja, aus dem Traum müsse man aufwachen, um ihn zu verwirklichen. Wir haben unsere Mythen wohl im langen Schlaf aufgegeben. Ich glaube an die Macht und die Kraft der Schönheit. Die Schönheit begeistert. Die Begeisterung verzaubert und erschafft Freude. Wir müssen wieder in unsere Kindheit zurückkehren. Gibt es etwas Schöneres als die Kindheit?
Was die internationalen Beziehungen angeht, da streut man sich Sand in die Augen, liebe Rabab. Ich habe nie verstanden, warum sich ein Volk das Recht anmaßt, über ein anderes Volk zu urteilen. Ebenso wenig, wie ich je verstanden habe, warum ein Volk bereit ist, ein anderes über sich urteilen zu lassen. Erst recht eines, das jede Menschlichkeit, jede Zivilisation leugnet und nur auf Konkurrenz und Hierarchie baut. Die Demokratie! Mit diesem einen Wort und für dieses eine Wort hat man Genozide begangen, Männer und Frauen gedemütigt. Blaise Compaoré hat seine Herrschaft mit einem entsetzlichen Blutbad angetreten. Er hat es fortgesetzt bis zu seinem Sturz. Seine Demokratie bestand darin, das Volk zu entmündigen, Gesundheit und Bildung zu privatisieren, die Plutokratie zu segnen und zur Knechtung seines Volkes beizutragen, indem er das ganze Land den „Investoren“, den „technischen und finanziellen Partnern“ – neue Bezeichnungen für das, was gestern die Kolonialherren waren – auslieferte. Für ihn brauchen die Nationen starke Männer, keine starken Institutionen, wie Barack Obama bei seiner Rede am Sitz der Afrikanischen Union in Addis Abeba gefordert hat.
Ja, ich hätte mir wie Du gewünscht, dass er sich im Gerichtssaal verantworten muss, doch er hat sich der Justiz durch schamlose Manöver entzogen.
Aber ich trage die Rüstung der Geduld und des Glaubens. Früher oder später muss man bezahlen. Alles findet seinen Lauf, seinen Atem wieder. Die Gerechtigkeit, die Schönheit, die Freude und der Frieden werden wieder in meinem Land und auf der Erde herrschen. Davon bin ich überzeugt.
Pass gut auf Dich auf, liebe Rabab, und lass mich diese Verse von Léon-Gontran Damas mit Dir teilen:
es gibt keine Traurigkeit, die nicht stirbt bei der Kreuzung am Morgen
und weil es sie nicht gibt, die Traurigkeit, die nicht stirbt bei der Kreuzung am Morgen
liegt das Echo mit seinem bösen Blick
der belegten Zunge
völlig daneben
wenn es alles besser weiß
und wiederholt in Ort und Zeit
nur Leid
nur Leid
denn das Echo, an das ich denke
das sich den Anschein gibt, als hätte es
den bösen Blick
und die belegte Zunge
weiß nicht, dass die Traurigkeit gestorben ist am Morgen.
Viele Grüße
AT
[1] Ein Theaterprojekt von Aristide Tarnagda nach dem gleichnamigen Roman von Mohamed Mbougar Sarr, über das er in seinem ersten Brief an Rabab Haidar schreibt. LINK: https://weiterschreiben.jetzt/weiter-schreiben-mondial-briefe/aristide-tarnagda-rabab-haidar/das-volk-wurde-zu-einem-tier-gemacht-das-man-maestet-bis-der-viehmarkt-oeffnet-brief-2/