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Die Ungewisse – Brief 1

Heike-Melba Fendel an Naeema Ghani, Berlin , 15. August 2023

Übersetzung: Ibrahim Hotak ins Paschtu

„Für mich sind die Fotografien von Abdo Shanan aus der Serie „Diary: Exile“ Bilder der Sehnsucht und sie in meiner Wohnung zu haben, setzt mich in Verbindung mit der Heimat von Menschen, die ich nicht kenne, aber von der ich etwas wissen möchte.“ © Heike Melba Fendel / © Wandbild Abdo Shanan

 

Liebe Naeema,

Du hast eine Erzählung über rote Stiefel geschrieben und was sie für ein Mädchen bedeuteten, die kaum etwas so sehr haben wollte wie diese Stiefel. Die roten Stiefel waren ihr zu klein und schmerzten das Mädchen beim Tragen. Und doch war die von ihr erbettelte Anschaffung kein Irrtum, sondern ermöglichte ihr einen Triumph, eine Befreiung gar. Im Grunde, so scheint es mir, handelt Deine Geschichte davon, dass Sehnsucht sich zwar in der Schuhgröße, nicht aber im Sehnen irren kann. Denn wer sehnt, hat Recht. Und bei Dir, in Deiner Geschichte, bekommt sie auch Recht.

Ich habe einmal eine Geschichte über eine Frau geschrieben, die ihr ganzes Leben schmerzende Schuhe trug. Bis zu jenem Tag, als ein seltsamer Schuhverkäufer ihre geschundenen Füße so liebevoll berührte, dass sie am selben Tag noch alle schmerzenden Schuhe wegschmiss. Er hatte ihr die ungeliebten Füße liebenswert gemacht, und sie wollte ihnen nicht länger Schmerz zufügen.

Auch mir ging es also um Befreiung. Nur eben andersherum, im Verzicht auf selbst erzeugten Schmerz und nicht, wie bei Dir, durch dessen Würdigung. Das für mich Schöne ist: Unsere Geschichten widersprechen einander nicht, sie schauen sich an. Wir sagen: Guck mal! Und dann zeigen wir etwas, für das sich niemand zu schämen hat. Wir befreien unsere Figuren von der Scham, indem wir ihnen Geschichten geben. Denn peinlich, auch das schrieb ich in einer Geschichte, peinlich gibt es nicht.

Das ist meine Sehnsucht, Naeema, ein Leben jenseits der Scham führen zu können. Scham tut weh, Pein ist der Schmerz und peinlich ist der Schmerz, den die Scham erzeugt. Weißt Du, Naeema, und schon ist es mir so peinlich, Dir von meiner Scham zu schreiben, weil sie banal erscheint angesichts dessen, was ich Dir als Deine Probleme unterstelle. Ich fürchte, Du denkst, na super, sonst hat sie keine Sorgen, die Glückliche.

Aber so darf Schreiben nicht sein, glaube ich. Es darf nichts unterstellen und kann alles beschreiben. Und hier kann ich erst einmal nur mich beschreiben, denn Du bist das und die Ungewisse, die ich adressiere. Der ich mich schreibend und lesend nähere. Es steht mir nicht zu, Dich zu verorten, nicht im Verlust Deiner Heimat noch in dem, was dieser in Dir anrichten mag.

Allein schon dieses grunddeutsche Wort „Heimat“ – es bedeutet so viele unterschiedliche Dinge und vielleicht ja sogar: gar nichts. Kim de l‘Horizon, ein schreibender Mensch aus der Schweiz, schreibt, dass Heimat kein Ort, sondern eine Zeit sei. Ich finde das plausibel. Heimat ist die Zeit, in der wir uns mit einem Ort und einer Idee von uns an diesem Ort verbunden haben. Es ist diese Idee, die wir vermissen, wenn wir Heimat vermissen. Wir vermissen uns an einem Ort, nicht den Ort selbst. Es mag am Ende dasselbe sein, denn wie die Sehnsucht ist das Vermissen ein absolutes Gefühl.

Nun ließe sich sagen, alle Gefühle seien absolut, und der Satz „Wer fühlt, hat Recht“ greift mehr und mehr Raum. Für mich ist er grundfalsch. Ich frage mich eher, ob es sich mit Gefühlen nicht wie mit Farben verhält, es also drei Grundgefühle gibt, aus denen sich alle anderen zusammensetzen. Welche das sein könnten – Liebe, Trauer und Stolz vielleicht?

Wir Deutsche sind nicht selten stolz auf ein Gefühl namens Fremdscham. Fremdscham bedeutet, dass einem eine andere Person, oder zumindest eine Handlung dieser Person, unglaublich peinlich ist. Das ist ja zum Fremdschämen, sagen wir, und diese Scham erhebt uns über ihr Objekt. Mir sind allenfalls Menschen peinlich, die sich fremdschämen. Soll sich doch jede und jeder blamieren, wo er und sie kann. Mit dem falschen Outfit, dem falschen Ausdruck, der falschen Gewohnheit.

Eine sehr deutsche Gewohnheit ist es, im Urlaub frühmorgens Handtücher auf Badeliegen zu drapieren, um sie als belegt auszuweisen und dann stundenlang frühstücken zu gehen. Markierung als Inbesitznahme. Mein Handtuch, meine Liege, mein Recht.

Die Deutsche Bahn löst das Problem mit kostenpflichtiger Sitzplatzreservierung. Diese gleichsam digitalen Handtücher geben uns das Anrecht auf einen bestimmten Platz. Nicht selten jedoch irrt sich das System und ein Platz wird zweimal vergeben. Oder im Zug fällt die Reservierungsanzeige aus. Oder ein Zug ist ausgefallen und wird mit dem nächsten zusammengelegt und jeder Platz gehört mit einem Mal rechtmäßig jeweils zwei Personen. Und nun?

Erst einmal, auch das erlebe ich als deutsche Spezialität, wissen wir dann irgendetwas besser. Wer Schuld hat, wer Recht hat, wer dran ist … Die Besserwisserei ist unser Allheilmittel gegen die Zumutungen des Lebens. Gegen peinliche andere, gegen alles andere, gegen eine Scham, die an uns selbst zu richten wäre. Weil wir es nicht gelernt haben, freudvoll für andere Platz zu schaffen, Räume zu öffnen und Rechte zu teilen.

Wir sagen: „Das Bessere ist der Feind des Guten.“ Aber es ist das Besserwissen selbst, das sich das Gute zum Gegner erklärt. Das Gute wird zu etwas, für das man sich schämen muss, weil es sich seiner Steigerung ins Besser verweigert hat.

Ich schäme mich nicht fremd, Naeema, aber ich schäme mich für diese Geringschätzung des Guten. Und ich schäme mich, schon wieder und noch einmal, wie wenig ich weiß über die Welt, aus der Du kommst, die Du verlassen musstest und mit ihr die Zeit zwischen Dir und jenem Ort, von dem ich vermute, dass er für Dich Deine Idee von Heimat formt. Viel zu viel dagegen weiß ich über meine Heimat, die für meine Variante von Scham das Wort „Gutmensch“ erfunden hat. Ein Gutmensch ist bei uns, das musst Du wissen, kein guter Mensch, sondern ein peinlicher Mensch. Jemand, die sich vor lauter Gut-sein-Wollen in Naivität verrennt.

In dieser Naivität, für die ich mich nun zur Abwechslung mal ganz und gar nicht schäme, schaue ich auf die zahllosen Handtücher, die wir hierzulande ja nicht nur am Strand oder am Pool ausbreiten. Sondern überall dort, wo wir sagen: Das ist meins und du hast keinen Platz hier, kein Recht auf Platz, weil: Du hast überhaupt keine Rechte. Und ich möchte sie in gezielter Naivität einsammeln und, sorgfältig gefaltet, an einen Ort bringen, an dem sie Menschen nicht fernhalten, sondern wärmen oder trocknen werden.

Hier bin ich und hier bist Du. Lass uns einander Dinge erzählen, Naeema. Und darin beides auflösen, Fremdscham und Scham überhaupt. Ja, Du bist das und die Ungewisse. Ich liebe das Ungewisse.

 

Heike

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Die Ungewisse - Brief 1

Heike-Melba Fendel an Naeema Ghani: Du hast eine Erzählung über rote Stiefel geschrieben und was sie für ein Mädchen bedeuteten, die kaum etwas so sehr haben wollte wie diese Stiefel. Die roten Stiefel waren ihr zu klein und schmerzten das Mädchen beim Tragen. LesenText im Original

Nächster Brief:

Wofür wir uns schämen sollten - Brief 2

Naeema Ghani an Heike-Melba Fendel: Ich schicke Dir liebe Grüße. Deinen Brief habe ich mit Freude gelesen, vielen Dank! In den sozialen Medien habe ich vom Erscheinen Deines neuen Buches erfahren, aber mein Deutsch ist nicht gut genug, um es lesen zu können. Deshalb habe ich die Lektüre erst einmal aufgeschoben. LesenText im Original

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