Ich will mir selbst übrig bleiben – Brief 4
Maryam Mahjube (Pseudonym) an Ilma Rakusa, 24. September 2021
Übersetzung: Ali Abdollahi
Liebe Frau Ilma,
grüß Sie! Bevor ich Ihren Brief erhielt, hatte ich bereits einige Briefe an Sie zu schreiben begonnen. Meine Situation war nicht gut und ich hatte Angst, dass ich selbst nicht mehr da wäre, wenn Ihr Brief mich erreichen würde. Ich verbrachte viele Nächte in Angst und Panik, sprang bei jedem Geräusch von Flugzeugmotoren aus dem Bett und dachte, es gäbe einen erneuten Luftangriff. Es bestand kein Zweifel, dass man uns für IS-Leute hielt und Luftangriffe auf uns fliegen würde. Tagsüber, wenn ich das Geräusch eines Autos hörte, das sich näherte und dann vor unserem Haus hielt, sagte ich zu meinem kleinen Bruder: „Geh raus und sieh, wer da ist!“ Und ich dachte, jetzt kommen sie, die Talib-Leute. Sie würden aussteigen und unser Haus durchwühlen, so wie meine Freunde es schon oft erlebt hatten. So verbrachte ich Tage voll Leid und voll Hass. Dann aber wurde mir klar, dass Leid und Hass auch keine Lösung waren. Der Hass ist eines der zerstörerischsten Gefühle der Welt, ein Gefühl, das ich nicht ertragen kann und das mir außer Schaden bisher nichts gebracht hat. Also ging ich in mich, saß mit mir alleine da und stellte den Hass einfach zur Seite. So sah ich endlich ein, dass niemand an diesem Zustand Schuld hat und verantwortlich ist außer wir selbst. Die Politik wollte sich immer wieder in mich einschleichen, aber ich erlaubte es ihr nicht. Ich entschied mich, der Politik und den Politikern und ihrer Art, wie sie die Welt regieren und verwalten, nicht zu gestatten, auch meine Seele zu beherrschen. Ich wollte mir selbst übrig bleiben, für mich alleine sein. Ich betete, dass meine Seele Rettung erleben möge, damit ich wieder imstande sein würde zu lieben und Vertrauen zu schenken.
In diesen Tagen gibt es keine Kriege und Auseinandersetzungen mit den Taliban in den Provinzen, außer in Pandschir, wo man gegen sie kämpft und ihnen Widerstand leistet. Ein weiteres Merkmal dieser Tage ist es, keine Nachrichten zu bekommen, dieses merkwürdige Nicht-Wissen. Heute besteht der Zweck des Schreibens und Übermittelns von Nachrichten darin, die Leute zu beschäftigen, weil es nichts Nützliches zu sagen gibt und man sonst nichts sagt. Aus Pandschir werden keine Nachrichten veröffentlicht, man schreibt nichts über den Widerstand gegen die Taliban und die Spaltungen bzw. Gruppierungen unter deren Führern. Man sagt nichts über die Lage der Menschen, ihre Vertreibung. Jeder ist sein eigener Reporter geworden, die Sozialen Netzwerke sind jetzt die einzigen Bühnen für Menschen ohne Stimme. Wir alle sind verwirrt und ziehen umher, wir fragen uns gegenseitig und spinnen uns Theorien und Hypothesen zusammen.
Fünfzehn Tage lang war ich nirgendwo, ich habe keine Bäume gesehen, ich habe nicht in den Himmel geschaut, kein einziges Zwitschern der Spatzen gehört. Doch dann, eines Nachts, als ich das Mondlicht ansah, brachte es mich zu mir zurück. Am nächsten Tag hörte ich das Zwitschern der Spatzen. So kehrte ich langsam an meinen Platz zurück. Die Tauben flogen um mich herum, die Quitten waren schon gereift, aber ich war nicht mehr derselbe Mensch. Ich hatte ständige Angst mitgebracht, Angst, dass eine Kugel, eine Bombe im Hof oder in der Loggia mich oder die Bäume treffen würden. Ich verbrachte jene Tage damit, mich zu überreden, mutig zu sein. Ich machte mich tapfer. All diese bitteren und schockierenden Ereignisse sind für mich schmerzhaft und quälend und sie brechen meinen Stolz, weil ich überhaupt nichts dagegen unternehmen kann. An manchen Tagen möchte ich auch gar nichts dagegen unternehmen, sondern nur auf einen Punkt starren. An solchen Tagen ist dieses Starren das schönste Gefühl der Welt. Manchmal tut mir der Kopf so weh, dass ich den Pulsschlag in meinem Gehirn spüre.
Sie haben nach der Gruppe „Architekten des Friedens“ gefragt. Ja, wir sind immer noch in derselben Situation. Einige von uns sind inzwischen ausgewandert, andere noch hier in Kabul. Wir haben unsere Programme geändert und sie den Bedingungen angepasst. Ein Freund fragte mich, was wir jetzt tun sollen. Ich antwortete: „Kämpfen!“ Er sagte: „Die eine Hälfte unseres Lebens haben wir im Krieg verbracht, die andere sollen wir jetzt im Kampf verbringen. Und wann sollen wir leben?“ Wenn wir aber keine andere Wahl haben als aufzugeben oder zu kämpfen, ist für mich der Kampf die richtigere Lebensform.
Dass Europa heute Frieden und Stabilität genießt, ist das Ergebnis langjähriger Kämpfe. Die bewussten und entwickelten Völker haben ein Recht darauf, die Stabilität, den Wohlstand und die Ruhe zu genießen, sie sind ein Lohn ihres Strebens. Die Geschichte Europas ist voll von Ehre, die die Völker erworben haben, und voll von Szenen, in denen das Recht einen Sieg über die Unterdrückung errungen hat.
In den ersten Tagen konnte ich nicht einmal ein Buch lesen, bis ich mit „Der letzte Granatapfel“, einem Roman des kurdischen Schriftstellers Bachtyar Ali Muhammed begann. Sein Protagonist Muzarafi Subhdam erzählte mir von seinen Erfahrungen und erklärte mir, wie ich meinem Feind gegenüber geduldig und freundlich sein und ihn als einen Menschen wie mich selbst betrachten sollte: … ein Gezwungener!
Sie haben den Dokumentarfilm „Kabul, Stadt des Windes“ gesehen. Ich habe nur davon gehört. Von so vielen Filmen, die über Afghanistan gedreht werden, sind uns nur wenige zugänglich. Das Internet ist schlecht und langsam, es gibt keine Kinos und auch keine Fernsehsendungen, die über solche Themen berichten. Vor kurzem waren mehrere Kinos in Kabul gebaut worden und hatten angefangen, Filme zu zeigen. Sahra Karimi, die Leiterin von Afghan Film, ist eine sehr erfolgreiche Frau. Ihr ist es zu verdanken, dass in Kabul wieder Kinos eröffnen konnten. Das war eine große Leistung, aber diese neue Blume im Garten der Künste war im Nu verwelkt, ohne je zu blühen. Jetzt haben wir keine Hoffnung mehr, irgendeinen Film zu sehen, geschweige denn einmal ins Kino zu gehen. Ich habe auch die Blicke der Kinder gesehen, wenn sie am Straßenrand Autos waschen oder nur die Scheiben putzen oder wenn sie mit einem Eimer voller Wasserflaschen als fliegende Verkäufer um die Autos herumlaufen. Ich kenne auch die Blicke ihrer Mütter und Väter. Ihre Augen sind brennende Strahlen aus einem uralten tiefen Leiden.
Meine liebe Freundin, liebe Schriftstellerin, seit Tagen ist mir keine Idee für eine Geschichte eingefallen und dieses „Ohne-Idee-Sein“ quält mich sehr. Ich schrieb eine Geschichte, beendete sie, schickte sie zur Veröffentlichung und sie wurde veröffentlicht – doch in der jetzigen Situation weiß ich nicht, wer sie lesen soll. Es quält mich, keine Leser haben und keine Schriftstellerin zu sein. Man kann eine Geschichte über den Krieg schreiben, aber wie kann man eine Geschichte im Krieg bzw. im Putsch schreiben?
Ich habe einen kleinen, leichten Laptop, den ich zum Schreiben auf meinen Rollstuhl stellen kann. Außerdem ist mein Handy ein gutes Werkzeug, um meine Notizen und Ideen für Geschichten aufzuzeichnen. Ich habe auch ein kleines und leichtes Büchlein, auf dessen Blätter ich schreiben kann. Ich habe vielmals versucht, auf Leinwand zu malen, aber es gelang mir nicht, also male ich auf Blätter in der Größe von A4, die ich ganz nah vor mir auf den Tisch legen kann.
Tamanna, meine Schwester, ist noch nicht zur Uni gegangen, die bewaffneten Männer sitzen am Eingang der Uni und lassen niemanden rein und raus. Unsere Gasse liegt in der Nähe einer Schule. Früher war sie jeden Tag zu Schulbeginn und Schulschluss voller Mädchen und Jungen. Jetzt überquert kein einziges Mädchen mehr die Gasse. Sie ist nun leer und verlassen.
Ich habe Sorgen, große Sorgen. Es gibt ja keinen Krieg in Kabul. Es gibt aber auch kein Vertrauen, niemand traut den Taliban, alle Leute haben sie vor fünf Jahren schon erlebt und kennen sie gut. Aber mit oder ohne Sorgen, das Leben ist das Leben und man muss es weiterführen. Tamanna hat gerade die reifen Quitten vom Baum gepflückt und Marmelade daraus gekocht: eine süße, leckere Marmelade. Im Gegensatz zu all den Mädchen, die die Schule abgebrochen haben, konnte ich seit einigen Tagen meinen Englischkurs wieder aufnehmen. Alles ist unvorhersehbar, es gibt keine Stabilität. Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch ein paar Monate weitermachen kann. Oder ob in ein paar Tagen doch der Unterricht der Mädchen wieder beginnt.
Liebe Frau Ilma, ich bin nicht das erste Mädchen, das in Krieg und Unsicherheit aufwächst, obwohl ich hoffe, das letzte zu sein. In Syrien, Myanmar, Irak, Mexiko, Palästina, Israel gibt es Mädchen wie mich, auch sie haben Träume, und wir alle sollten hoffen und weitermachen. Es erscheint mir ungerecht, dass der eine im Frieden geboren wird und der andere an einem Ort voller Unruhe. Aber der Weg, den wir vor uns sehen, die Art, wie wir diesen Weg einschlagen, liegt in unserer eigenen Hand (auf individueller und kollektiver Ebene). Im schlimmsten Fall gibt es gute und schlechte oder schlechte und noch schlechtere Entscheidungen. Im Koran wird überliefert, dass Suleiman ein Mann war, der bequem und wohlhabend lebte und keinerlei Mangel und Bedürfnis in seinem Leben hatte. Aber er war auch ein Prophet und der Reichtum und Wohlstand waren eine Prüfung für ihn. Der Wohlstand bringt Vergessenheit und Versäumnis mit sich. So wie die Unruhe und der Krieg eine Art Egoismus mit sich bringen. Im Kriegszustand und in kritischen Situationen denkt man an niemanden außer an sich selbst, und wenn man sich doch einmal an die anderen erinnert, spürt man eine weitere Qual: nicht helfen zu können. Ein Mensch muss so erhaben sein, neben seinem eigenen Wohl oder Unwohl sich um die Nöte und Bedürfnisse der anderen zu kümmern. So wie Moses sich um sein Volk kümmerte, das unter dem Pharao in Sklaverei lebte. Ich liebe Moses und sein Aufruhr ist für mich herrlich und lobenswert.
Was, wenn es keinen Krieg und keinen Frieden gäbe? Befände sich die ganze Welt im Krieg, träumte niemand vom Frieden, und wenn es überall Frieden gäbe, was für ein Traum hätten wir dann?
Ich möchte unbedingt an Ihren Veranstaltungen und den Lesungen aus Ihren Gedichten und Erzählungen teilnehmen, ich habe immer noch diesen Traum. Der Gedanke, dass es in einigen Teilen der Welt Frieden, Ruhe und Stabilität gibt, tröstet mich und ich spüre diesen Frieden in meinem ganzen Wesen. Denken Sie an mich, wenn Sie in Ihrem grünen Garten sind, wenn der Wind weht oder ein Vogel singt, denken Sie an mich in dem Moment, wenn ein goldenes oder rotes Blatt von einem Baum fällt, und an den Tagen, wenn Ihr Garten voller Schnee ist, erinnern Sie sich an mich. Was für einen Unterschied wird es geben zwischen unserem Sein und Nichtsein, wenn niemand sich an uns erinnert oder an uns denkt oder wenn niemand uns liebt. Erinnern Sie sich an mich, das würde mich glücklich machen. Ich würde gerne mehr Bücher von Ihnen lesen, gern Ihre Schnee-Gedichte.
Eine weitere Geschichte von mir können Sie in der Sammlung „Untold“ in englischer Übersetzung lesen. Sie wird am 22. Februar 2022 veröffentlicht. Mir geht es momentan gut. Meine Familie, das größte Glück meines Lebens, ist immer an meiner Seite. In Kabul gibt es, so wie in anderen Provinzen, keine Zwangsvertreibung, und bisher hat es weder Krieg noch Konflikte gegeben. Aber der Herbst hat begonnen und die Luft, die wir atmen, wird nun immer kälter werden. Und allein dieser Gedanke lässt uns die härteren Tage mit allen Sinnen spüren. Der Zustand der Stadt ist nicht viel anders als der einer Belagerung, und kann leider unsere ethnische Zugehörigkeit und die Sprache, die wir sprechen, unsere Situation noch verschlimmern. Aber ich öffne immer noch die Tür meines Herzens für die Hoffnung und sage dem Schnee, dass er eine Reinheit voller Ruhe mit sich bringen soll. Haben Sie keine Sorge um mich! Ich werde Ihnen wieder von mir erzählen.
Ich habe Sie in den schwierigsten Tagen kennengelernt und diese Freundschaft ist für mich eine große Ehre und größtes Glück. Es ist so: Obwohl die Nacht eine Nacht ist, trägt sie auch Sterne in sich. Empfangen Sie meine Ehrlichkeit und Liebe,
herzlichst
Ihre Maryam
Übersetzt aus dem Persischen.
Untold – Weiter Schreiben Afghanistan: Zur Übersichtsseite
Untold – Weiter Schreiben Afghanistan, ist eine Initiative der KfW Stiftung in Kooperation mit „Untold – Write Afghanistan“ und Weiter Schreiben. Lesen Sie hier eine Erzählung von Maryam Mahjube, erschienen am 28. Januar 2022