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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Maliha Naji & Dilek Güngör > Wie wir über uns selbst und unsere Herkunft sprechen - Brief 3

Wie wir über uns selbst und unsere Herkunft sprechen – Brief 3

Dilek Güngör an Maliha Naji (Pseudonym), 16. August 2022

Übersetzung: Ibrahim Hotak Aus dem Paschtu

Blaue Zeichnung © Dilek Güngör
© Dilek Güngör

 

Liebe Maliha,

wie schön, dass Du mir schreibst! Ich habe Deinen Brief schon erwartet und dann doch so lange gebraucht für meine Antwort. Seit Tagen will ich Dir schreiben und denke immer, morgen, morgen, morgen schreibe ich. Ich habe sogar davon geträumt, nicht von meinem Brief, aber von einem Treffen, hier in Berlin, bei dem wir uns alles sehen, die afghanischen und die deutschen Briefeschreiberinnen. Ich habe keine Menschen gesehen in meinem Traum, nur eine Küche, und ich wusste, hier findet gleich ein Fest statt, ein erstes großes Kennenlernen. Gestern, am 15. August, hörte ich in den Radionachrichten zu jeder Stunde, dass sich der Tag jährte, an dem die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen hatten. Nach zwanzig Jahren. Die Amerikaner, die Deutschen, die Flugzeuge, die Menschen am Flughafen, die Lebensmittelpreise, die Mädchen, die nicht zur Schule dürfen. Für mich sind es Nachrichten und für Dich hat sich das Leben auf den Kopf gestellt.

Wir hören viel Radio, Maliha, ich schalte es morgens im Bad schon ein, in der Küche läuft derselbe Sender, so dass wir in der Früh beim Waschen und Haarekämmen und Frühstückvorbereiten Nachrichten hören können, wenn wir zwischen den beiden Räumen hin und herlaufen. Ich habe am 15. oft an Dich gedacht und in der Nacht von dieser großen Küche geträumt. Am Morgen habe ich gleich mit meinem Brief begonnen. Unsere Gedanken und unsere Sorgen schleichen sich in unsere Träume. Meine Mutter hat uns früher, als ich noch bei meinen Eltern lebte, oft erzählt, was sie geträumt hatte. Manchmal rief sie ihre Mutter an oder ihre Schwester. „Ich habe dich im Traum gesehen, du bist wohin gerannt, ich habe dich gerufen, aber du hast mich nicht gehört. Ist irgendwas passiert?“ Ich habe Dich nicht gesehen in meinem Traum, dennoch habe ich von Dir geträumt.

Wie schön, dass Du als Mädchen auch Dein Papier verziert hast und dass Du farbige Stifte magst. Das kann einem belanglos vorkommen, aber ich denke, dass es die kleinen Dinge sind, die uns verbinden und woraus Freundschaften wachsen können. Wie zwei Kinder, die am ersten Schultag nebeneinandersitzen. „Darf ich deinen Stift nehmen?“ oder „Deine Tasche ist aber schön“, und so kommen sie ins Gespräch, stellen fest, dass sie dieselben Dinge mögen, und werden Freundinnen. Ich mochte die Handschrift meiner Schulfreundin aus der ersten Klasse. Sie schrieb mit links und ich wünschte, ich würde auch mit der linken Hand schreiben. Manchmal probierte ich das. Aber meine Schrift blieb meine Schrift und ihre blieb ihre. Dass Menschen vorsichtig mit ihrer Handschrift sind, kann ich gut verstehen, Maliha. Die Handschrift ist etwas sehr Persönliches, wie die Stimme. Ich bin oft neugierig, wie jemand schreibt, und bin manchmal überrascht, dass jemand so oder so schreibt, und bringe die Handschrift einfach nicht zusammen mit der Person, der die Schrift gehört. Zu kurvig, denke ich, zu geschwungen, zu bemüht, zu gefällig. Ich habe den Eindruck, jedes Land hat seine eigene Handschrift, dass englische Kinder ihre Buchstaben anders schreiben als französische oder türkische. Ich meine sehen zu können, ob jemand mit lateinischen Buchstaben oder japanischen Schriftzeichen alphabetisiert worden ist, ob jemand das Schreiben mit Schreibschrift oder Druckschrift gelernt hat. Meine Handschrift ist nur eine halbe Seite lang schön und ordentlich, vielleicht auch nur eine viertel Seite lang. Danach wird sie ungeduldig, weil die Hand nicht so schnell ist wie die Gedanken. Ich mag meine Schrift nicht besonders. Magst Du Deine Handschrift?

Du stellst Dir mich mit kurzen Haaren vor! Das ist lustig. Als ich klein war, hatte ich immer kurze Haare, meine Mutter fand, mein dickes, lockiges Haar ließe sich so besser waschen und kämmen. Manchmal hielten mich die Leute für einen Jungen. Inzwischen trage ich es schulterlang und schneide es selbst, wenn es zu lang wird. Zuletzt hat sie mir meine Tochter geschnitten. Sie hat sie mir auch gefärbt. Würde ich sie nicht färben, wären sie an den Schläfen schon ganz weiß! Ich wünschte, ich könnte sie einfach so lassen und niemand würde sich dafür interessieren, ob meine Haare weiß werden oder nicht. Meine Mutter ist fast siebzig und färbt sich die Haare regelmäßig, und irgendwie denke ich, ich kann nicht vor ihr mit dem Färben aufhören. Als müsste ich abwarten, bis ich dran bin mit dem Älterwerden. Als junges Mädchen färbte ich mir die Haare manchmal mit Henna. Benutzt Du Henna? Meine Mutter und meine Cousinen rührten einen dicken Hennabrei an, mit schwarzem Tee und Olivenöl, und eine trug der nächsten die dicke Paste auf. Wir umwickelten unsere Haare mit Alufolie und gingen mit schweren Köpfen ins Bett. Ich hatte das Gefühl, ich müsse meinen Kopf auf meinem Hals balancieren. Jetzt nehme ich einfach fertige braune Farbe aus der Drogerie. Den Farbton kriege ich nie genau hin, ich mische zwei Brauntöne, Mittelbraun und Dunkelbraun, und in der Familie sagen alle, ich hätte dreifarbige Haare, die neue, die natürliche und das Weiß, das immer nachwächst. Was soll‘s.

Ich hoffe, liebe Maliha, Du findest diese Geschichten über meine Haare und meine Träume nicht idiotisch. Mich interessieren diese kleinen, alltäglichen Dinge. Auch, wie das Haus aussieht, in dem Du lebst, das Zimmer, die Straße, die Schule, der Platz, wo Du sitzt, wenn Du schreibst? Mir erzählen solche Dinge mehr als die Radionachrichten.

Woher ich komme, fragst Du. Maliha, ich glaube, mein ganzes Schreiben hat sich immer um diese Frage gedreht. Wer bin ich und woher komme ich? Wie wir über uns selbst und unsere Herkunft sprechen, ist so viel mehr als Namen und Jahreszahlen. Wir erzählen uns Geschichten über uns selbst und diese Geschichten haben eine Macht über uns. In den Geschichten sind wir manchmal die, die wir gerne wären, oder die, zu der uns andere machen. Es ist schwer, sich so zu sehen, wie man ist. Neulich habe ich diesen Satz gehört: Mach dich nicht kleiner, als du bist, und nicht größer. Je älter ich werde, desto öfter passiert es mir, dass solche Sätze, die ich ein Leben lang gehört und überhört habe, die ich oft kitschig und platt fand, plötzlich einen Sinn ergeben.

Aber, trotzdem, hier: Namen und Jahreszahlen: Geboren wurde ich in Deutschland, meine Eltern aber in der Türkei. Du weißt vielleicht, in den 1960er und 70er Jahren kamen viele Menschen aus der Türkei nach Deutschland, um Geld zu verdienen? Nach dem Zweiten Weltkrieg fehlten Arbeitskräfte, die deutschen Firmen warben um junge Menschen aus Italien, Griechenland, Spanien, dem damaligen Jugoslawien und eben aus der Türkei. Meine Eltern waren zwei von ihnen. Wir haben türkisch gesprochen zu Hause, das tun wir heute noch. Mit meinen Kindern und meinem Mann spreche ich deutsch. Ich habe es nicht geschafft, unseren Kindern Türkisch beizubringen. Mein Mann ist Deutscher und spricht kein Türkisch. Dass unsere Kinder nur ein paar Worte Türkisch verstehen, finde ich sehr schade. Aber Deutsch ist viel mehr meine Sprache gewesen als das Türkische. Je älter ich wurde, desto seltener habe ich es gesprochen. Und als die Kinder geboren wurden, kam es mir fast schon seltsam vor, mit ihnen eine andere Sprache zu sprechen als Deutsch.

In Afghanistan war ich noch nie, Maliha. Aber ich träume von einer großen Reise. Stell Dir vor, mit dem Auto von hier in die Türkei und immer weiter nach Osten, durch den Irak, den Iran, weiter nach Afghanistan. Ich würde bei Dir vorbeikommen und an Deiner Tür klingeln. Wir würden weiterfahren, nach Pakistan und Indien und einmal rundherum. Wann wird das möglich sein?

Ich liebe Rot und mag kein Braun und keine gedeckten Farben. Auch nichts Pastelliges, was aussieht, als hätte man Kreide hineingemischt. Ich mag keine Farben, die keine Farben sind, Beige und Grau und Creme. Welche Farben liebst Du?

Und zum Schluss fragst Du nach meinem Beruf. Ich bin Schriftstellerin. Ich schreibe auch Artikel für Zeitschriften und Zeitungen, ich habe fünf Jahre bei einer Zeitung in Berlin gearbeitet. Studiert aber habe ich das Übersetzen. Es hat alles mit Wörtern und Schreiben zu tun, aber dass ich Schriftstellerin sein wollte, habe ich erst gemerkt, als ich es schon war. Ich habe viele Jahre gesagt, ich sei Journalistin, obwohl ich schon lange nicht mehr für eine Zeitung arbeitete. Es fiel mir schwer, von mir als Schriftstellerin zu sprechen, als stünde mir das nicht zu. Aber inzwischen sag ich das. Ich mache mich nicht kleiner und ich mache mich nicht größer.

Liebe Maliha, ich finde es seltsam, dass dies mein letzter Brief an Dich sein soll. Es gab einen ersten und gleich darauf einen letzten, wie kann das sein? Vielleicht gibt es dennoch einen Weg, wie wir in Kontakt bleiben oder wenigstens ab und an voneinander hören können. Ich würde gerne noch mehr Geschichten von Dir hören, wie die mit den heimlichen Briefen in der Schule, dem Geschenk Deiner Schülerin, Du hast mich neugierig gemacht auf Knuspernudeln. Ich werde schauen, ob ich hier in Berlin welche finden kann. Wer weiß, was werden wird, Maliha. Vielleicht begegnen wir einander, ich hoffe, wir sind dann nicht schon zu alt und zu müde, um auf eine große Reise zu gehen. Dann kommst Du mit dem Auto vorbei und holst mich ab. Hupe dreimal und ich komme herunter! Wir drehen die Fenster runter, Du gibst Gas und unsere Haare wehen uns um die Köpfe!

Alles Liebe und Schöne Dir, Maliha, Frieden Deinem Land und den Menschen dort.

Dilek

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