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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Maliha Naji & Dilek Güngör > Wenn Du kommst, mache ich Dir Knuspernudeln - Brief 4

Wenn Du kommst, mache ich Dir Knuspernudeln – Brief 4

Maliha Naji (Pseudonym) an Dilek Güngör, 22. September 2022

Übersetzung: Dr. Lutz Rzehak aus dem Paschtu

 

Bild mit Henna-bemaltem Arm und Blumen © Hiral Henna/Flickr – CC BY 2.0 (manipuliert)
© Hiral Henna/Flickr – CC BY 2.0 (manipuliert)

 

Allerliebste Dilek,

nimm bitte meine besten Wünsche und meine aufrichtigen Grüße entgegen. Ich bete ständig für Deine Gesundheit und für Dein Glück und hoffe, dass Du positive Energie verspürst.

Nach Deinem ersten Brief habe ich voller Sehnsucht auf den nächsten gewartet. Sogar die Tage habe ich gezählt, bis er eintreffen würde. Ich spüre, dass uns eine tiefe Vertrautheit verbindet. Die lieblichen Worte unserer Briefe ließen mich Deinen Brief umso mehr herbeisehnen.

Du hast recht: Der Mensch ist so. Wenn man tagsüber viel über etwas nachdenkt, dann träumt man nachts davon. Das Interessante daran ist, dass man manchmal nicht von den Dingen träumt, die man erledigen konnte, sondern von Dingen, die einen beschäftigen und die man nicht zu Ende gebracht hat. Als sei es das, worum es geht. Womit man am Tag beschäftigt ist, das lässt einen müde werden und selbst im Traum findet man keine Erholung. So ging es mir vor einigen Nächten. Ich habe geträumt, wie ich dastehe und mein Geist zu einer weißen Taube wird, die sich auf einen hohen Mast setzt. Ich bin lebendig und atme, aber ich bin auch die Taube und die Taube atmet auch. Ich finde das interessant und lustig.

Ja, dieser Jahrestag ist wichtig, weil sich damit unser aller Leben auf die eine oder andere Weise tiefgreifend verändert hat. Ich übertreibe nicht, wenn ich Dir sage: Was wir gewonnen hatten, haben wir verloren. Und was wir verloren hatten, das haben wir gewonnen. Ich habe viele Erinnerungen an diesen Tag, die ich nie vergessen werde. Manchmal stelle ich mir vor, wie ich irgendwann einmal ein erfülltes Leben und Enkel habe. Ob ich dann immer noch weinen muss, wenn ich ihnen diese schmerzhaften Geschichten erzähle, oder ob ich mich dann beruhigt habe? Ich weiß es nicht.

Die Einstellung unserer Familie zu Radio und Fernsehen hat sich in den letzten sechs Jahren etwas getrübt. Fernsehen schauen wir nur sehr selten und Radio hören wir nur dann, wenn ich selbst ein Interview hatte.

Du hast erwähnt, dass eine Schulfreundin mit links schrieb. Als ich das las, musste ich an ein Mädchen aus meiner Klasse denken. Wie sehr sich unsere Erinnerungen gleichen. Dieses Mädchen war damals, als wir in der zweiten Klasse waren, also in den ersten Jahren der Regierungszeit von Karsai, bessergestellt als die meisten von uns. Nicht nur in materieller Hinsicht. Sie hatte auch ein sehr schönes Gesicht und sehr große Hände wie bei einem Mann. Auch sie schrieb mit der linken Hand. Wenn wir sie schreiben sahen, versuchten wir, sie nachzuahmen. Aber wie Du konnte auch ich keine Linkshänderin werden. Manchmal, wenn ich Nachrichten über dies und das lese, steht da, dass Linkshänder über besondere geistige Kräfte verfügen. Dann frage ich mich, ob unsere Kräfte etwa geringer sein sollen, und muss lachen.

Wenn ich etwas schreibe, beginne ich gern auf einem A4-Blatt und glaube, dass ich das Blatt geduldig vollschreiben werde. Beim Scheiben richtet sich meine Aufmerksamkeit aber auf den Inhalt und auf die Wörter. Ich muss dann aufpassen, dass meine Handschrift nicht immer ungeduldiger wird. Mit anderen Worten: Regelmäßigkeit und Schönheit der Schrift nehmen Schaden. Wenn ich einen Artikel oder etwas in dieser Art schreibe, dann tippe ich es. Den Tagesplan für die Schule schreibe ich von Hand. Das ist immer mit viel Aufregung verbunden, damit sie später nicht sagen, ich hätte mit dem Fuß geschrieben. Früher, als ich an der Universität war, hat mir meine Handschrift gefallen. Die Dozenten aller Fakultäten hielten meine Handschrift für sauber und schön. Seitdem ich die Universität abgeschlossen habe, erledige ich alles am Computer oder am Handy. Meine Handschrift hat mit der Zeit ihren besonderen Reiz verloren.

Ich denke oft darüber nach, mir etwas Zeit zu nehmen, um einen Kurs in Schönschrift und Kalligraphie zu besuchen. Wer hier Literatur studiert hat, sollte auch eine schöne Handschrift haben. Ich weiß nicht, wie man bei Euch darüber denkt.

Es stimmt. Ich hatte mir vorgestellt, dass Du kurze Haare hast. Du hast geschrieben, dass sie jetzt lang sind, aber Deine langen Haare gelten bei uns immer noch als kurz. Hier lassen sich die Mädchen ihre Haare bis zum Knie wachsen, so wie auch Inderinnen es tun. Meinem Wesen entspricht das nicht. Ich mag keine langen Haare, denn es ist anstrengend, sie zu waschen und zu kämmen. Ich habe viel zu tun. Deshalb schneide ich mir die Haare heimlich ab, ohne dass meine Mutter es mitbekommt. Und wenn sie dann meine kurzen Haare sieht, ist sie böse auf mich und sagt: „Warum hast du dir wieder die Haare abgeschnitten? Du bist doch kein Kind mehr!“

Ich habe mir die Haare noch nie mit Henna gefärbt, denn meine Haare sind noch tiefschwarz. Bei uns gibt es jedes Jahr zwei große Feste. Zu diesen Festen und bei einigen anderen freudvollen Anlässen malen wir uns die Hände mit Henna an. Wir leben ja in der Hauptstadt, wo das Auftragen von Henna weniger üblich ist, aber in den Provinzen ist das sehr verbreitet. Sogar Männer färben ihre Bärte und Schnurbärte mit Henna. Wenn man hier die Haare mit Henna färbt, wickelt man anschließend eine Plastiktüte darum.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Begebenheit aus meiner Kindheit. Ich war damals sechzehn Jahre alt. Als mein Cousin geheiratet hat, gingen wir Mädchen alle in einen Schönheitssalon. Dort ließen wir uns die Haare zu einem Dutt binden, der aussah wie ein Vogelnest. Dann wurde noch irgendeine Flüssigkeit aufgetragen und wir mussten das einige Stunden lang so lassen. Mein Dutt wippte die ganze Zeit. Mal kippte er auf die eine Seite, mal auf die andere.

Deine Vorliebe für die kleinen Dinge des Alltags gefällt mir. Wir sind uns wirklich sehr ähnlich. Auch ich schaue gern auf die kleinen Dinge des Lebens. Sie können mich glücklich oder traurig machen.

Ich schlafe mit zwei Schwestern in einem Raum, der einem Wohnzimmer ähnelt. Tagsüber lernen wir in diesem Raum und nachts schlafen wir dort. Die Möglichkeit, dass jede ein einzelnes Zimmer hat, ist hier gleich Null. Mein Platz ist gleich neben der Tür, denn ich stehe morgens früher auf als die anderen, um zur Arbeit zu gehen. Zu dieser Zeit sind in unserer Familie immer nur drei Personen wach: mein Vater, meine Mutter und ich.

Die staatliche Schule, an der ich arbeite, ist in einem sehr schmalen Gebäude. Dort gibt es keinen freien Raum, ja nicht einmal einen Ort für Lehrer, wo sie sich erholen und entspannen könnten. Es ist eine kleine Schule. Die Direktorin hat eine Vorliebe für Blumen und sie hat viel Geschmack. Sie hat viele Blumentöpfe im trocknen und tristen Innenhof aufgestellt. Wenn die Pflanzen wachsen, winden sie sich an den Wänden entlang. Die Pflanzen haben sehr schöne bunte Blüten. Wer in den Schulhof hinaustritt, ist von gelben, weißen, dunkelroten und rosafarbenen Blüten inmitten frischer grüner Blätter umgeben, und der Wind verbreitet einen angenehmen Duft.

Die Privatschule, an der ich unterrichte, ist wie ein einziger Garten. Dort gibt es Apfelbäume, Aprikosenbäume, Mandelbäume, Granatapfelbäume und Feigenbäume. Wenn der Frühling kommt, sind die Bäume voller schöner Knospen und Blüten. Man glaubt, mitten durch Blumenbeete zu gehen. Später werden die Bäume grün und tragen Früchte. Dort bläst immer eine angenehme Brise. Die in einer Reihe stehenden Pappeln rascheln und ein angenehmes Lüftchen kommt zu uns herüber, wenn wir auf dem Rasen sitzen. Das Rauschen der Blätter ist bezaubernd. Zwischen den Bäumen wandern Pfauen und Enten umher. Truthähne und andere Vögel verzaubern die Stimmung im Garten.

Ich sitze ich gerade in unserem Wohnzimmer, während ich Dir diese drei Orte beschreibe. Manchmal bedrückt mich das weiße Licht der Glühlampe, denn ich mag gelbes Licht. Gelbes Licht ist beruhigend.

Du liegst absolut richtig. Auch ich habe früher Dinge gehört, die ich für unbedeutend hielt und als Klischee ansah. Jetzt, wo ich etwas älter geworden bin, zeigt sich mir immer wieder, dass die Worte von älteren und gereiften Personen nicht zum Klischee werden, weil sie von anderen wiederholt werden. Diese Worte sind es wert, wiederholt zu werden. Dinge, die ich für schlicht und einfach hielt, werden sehr wichtig und bedeutungsvoll.

Mit den Sprachen habt Ihr es genauso gehandhabt wie es bei uns in der afghanischen Kultur üblich ist. Wenn hier eine Frau Dari spricht und ihr Mann spricht Paschto oder wenn eine Frau Paschto spricht und ihr Mann Dari, dann bringt man den Kindern die Sprache des Vaters bei.

Es beruhigt mich, wenn Du schreibst, dass Du umso weniger redest, je älter Du wirst. Ich denke seit langer Zeit darüber nach, warum ich mit jedem Tag weniger rede. Ich habe im Internet etwas darüber gelesen. Man sagt, dass jemand, der das Leben verstanden hat, nur wenig spricht.

Liebe Dilek! Unsere Unterhaltung ist so anregend und verheißungsvoll. Einige Sekunden lang habe ich mir ausgemalt, wie Du hier bei mir vorbeikommst, so wie auch Du es Dir vorgestellt hast.

Der Tag wird kommen, an dem die letzte Seite im Kapitel der dunklen Geschichte Afghanistans umgeblättert wird und das ganze Land wieder frei atmet. Gäste aus anderen Ländern werden uns unbekümmert besuchen. Ich möchte sehr, dass Du herkommst und an einem wunderschönen Tag bei uns an der Tür klingelst. Ich werde aus der Tür treten und sehen, dass dort meine liebe Brieffreundin steht. Das wird mich sehr glücklich machen. Ich kann mir vorstellen, wie sich das Herz beruhigt. Aber wird die Wirklichkeit tatsächlich so prachtvoll sein?

Sehr schön, dass wir auch bei Farben denselben Geschmack haben. Ich mag keine trüben Farben. Hier muss man immer grau tragen. So verlangen es der Brauch und die Gesetze der Regierung. Am meisten mag ich leuchtende und helle Farben, besonders aus der Familie der Straußenvögel. Gelb, Orange …

Ich übersetze gern. Ich möchte Fremdsprachen lernen, um einmal wichtige Bücher und andere Dinge zu übersetzen. Wegen großer kultureller und wirtschaftlicher Schwierigkeiten habe ich das leider noch nicht geschafft. Ich versuche, Englisch und Arabisch zu lernen. Meine Schwestern können Türkisch. Es gefällt mir sehr, wenn sie reden.

Was mir gar nicht gefällt, ist die Tatsache, dass dies unser letzter Briefwechsel ist. Bei uns gibt es ein Sprichwort: „Die Wege des Lebens sind lang. Ein Berg kann zwar nicht zu einem anderen Berg gelangen, aber ein Mensch zu einem anderen Menschen.“ Auf die eine oder andere Weise werden wir voneinander hören und erfahren, wie es uns geht.

Sollten Knuspernudeln bei Euch schwierig aufzutreiben sein, dann behalte ich das im Auge. Wenn Du hierherkommst, bereite ich Dir selbst welche zu. Hausgemachte Knuspernudeln schmecken am besten.

Ich freue mich auf unser Treffen und warte auf den Tag, wenn ich Dich als Gast bei mir empfangen darf. So wie Du schreibst, werde ich Dich am Flughafen abholen und dann fahren wir zu mir nach Hause.

Vielen Dank für all die guten Wünsche!

Auch Dich sollen meine besten Wünsche begleiten. Ich hoffe, dass Du immer glücklich bist.

Maliha

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