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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Fatema Haidari & Paula Fürstenberg > Was ist das Gegenteil von sprachlos? – Brief 2

Was ist das Gegenteil von sprachlos? – Brief 2

Paula Fürstenberg an Fatema Haidari, Berlin, 26. Juni 2024

Übersetzung: Ali Abdollahi ins Persische

© OTFW Berlin / CC BY-SA 3.0

Liebe Fatema,

hab vielen Dank für deinen Brief, der mich sehr berührt und lange beschäftigt hat. Ich habe seither viel über Schmerz und Hoffnung nachgedacht.

Du schreibst, dass die Wunden des Krieges nicht ohne Lehren und Lektionen bleiben sollten. Da musste ich sofort an diesen Satz von Audre Lorde denken: Schmerz sollte nicht vergeudet werden.“ Er steht in ihrem Krebstagebuch und bezieht sich auf einen von Krankheit verursachten Schmerz. Krieg und Krankheit liegen im Deutschen sprachlich nah beieinander. Man sagt zum Beispiel: eine Krankheit bekämpfen, überleben, besiegen, als wäre sie eine Kriegsgegnerin, mit einem heroischen Unterton, der jeder Realität von Kranken entbehrt, und wenn ich deine Worte lese, denke ich: auch der Realität des Krieges. Ich glaube, Lordes Satz gilt für alle Arten von Schmerz – wie heilsam es sein kann, wenn aus dem Schmerz zumindest etwas folgt! Von der Depression, aus der herauszukommen mal eineinhalb Jahre lang meine Hauptbeschäftigung gewesen ist, meine ich, dass sie mich viel gelehrt hat: Seither kann ich die Sprache meines Körpers lesen, seither räume ich meinem Körper ein Mitspracherecht bei all meinen Entscheidungen ein, seither verwechsle ich Wut nicht mehr mit Trauer, seither gehe ich jede Woche tanzen. Mir scheint, Heilung und Hoffnung lieben diese Erzählung: dass ein Schmerz nützlich oder sogar nötig gewesen ist, um daraus stärker oder klüger hervorzugehen. Ich bin nicht sicher, ob das stimmt, in Wahrheit halte ich viele Schmerzen für nutzlos und unnötig. Aber wenn sie nun schon mal da sind und wehtun, kann es eine heilsame Wirkung haben, ihnen zumindest eine Lektion und also einen Sinn abzuringen. Es fasziniert mich immer wieder, dass Erzählungen heilsam sein können.

Dem gegenüber ist der langanhaltendste Schmerz jener, aus dem eben nichts folgt, der für nichts gut gewesen ist, für keine persönliche oder politische Lektion, und aus dem sich kein narratives Lehrstück stricken lässt. Du schreibst, dass jede Bitterkeit letztlich ein süßes Ende hat, und ich hoffe sehr, dass du Recht hast. Allerdings fällt es mir im Moment schwer, das nicht nur zu hoffen, sondern auch daran zu glauben. Hier hat gerade die Europawahl stattgefunden, bei der rechtsextreme Parteien stark an Zustimmung gewonnen haben. Es sind Parteien, für die Autoritarismus, Patriarchat, Holocaustverharmlosung und die Abschaffung des Rechts auf Migration und Asyl kein Alptraum, sondern ein Wunschtraum sind. Parteien, auf deren Veranstaltungen Journalist*innen eingeschüchtert und angegriffen werden. Bei solchen Wahlergebnissen scheint es mir, als seien die Schmerzen der Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts vergeudete Schmerzen gewesen, deren Lehren und Lektionen ausbleiben.

Vielleicht muss ich für die Hoffnung auf das süße Ende lernen, in größeren zeitlichen Abständen, weiter in die Zukunft zu denken, über den Ort und den Zeitraum hinaus, der mir auf dieser Erde gegeben ist. Die Autorin und Kolumnistin Mely Kiyak sagt, dass es nur noch maximal zwei Bundestagswahlen dauere, bis die Faschisten an die Regierungsmacht kommen, und dass sie trotzdem ganz viel Hoffnung habe, weil das Leben und die Welt Pendelbewegungen seien, und je nachdem, auf welcher Seite und an welchem Ort man wohne, habe man ein bisschen Glück oder Pech. Sie habe Hoffnung, weil sie wisse, dass nochmal Kinder kommen, nochmal Pflanzen wachsen und es immer eine Tür gebe, die sich irgendwo öffnet, und immer auch ein Licht. Sie wolle allerdings keine Prognose wagen, wann und für wen.

Ich finde das einen sehr schönen und selbstlosen Gedanken. Und doch merke ich, dass es mir schwerfällt, so zu denken. Ich möchte Hoffnung für meine Zeit und meinen Ort haben, für mich und meine Freund*innen und die Welt, in der ich lebe. Und aus der Erfahrung der Depression heraus halte ich es nicht nur für nett, sondern für existenziell, Hoffnung auch für sich selbst zu haben.

Ich habe übrigens die englische Übersetzung deiner tollen Erzählung „The Greenhouse“ gelesen und über das Bild in diesem Satz nachgedacht: „Following the famous maxim that heat could only be beaten by heat, they believed that the only way to survive the greenhouse was to drink more tea.“ Das erhitzende Treibhaus, in dem die Hitze mit Hitze bekämpft wird – was für ein Bild für die Heißzeit, in der wir leben. In Berlin ist es heute über 30 Grad heiß, ich sitze barfuß am Schreibtisch und sehne mich nach den kühleren Abendstunden. Deine Erzählung hat mich also an eine andere Hoffnung erinnert, die ich habe: dass wir Menschen es noch schaffen, das Treibhaus rückzubauen, zu dem wir die Erde gemacht haben. Auch das hoffe ich mehr als ich daran glaube.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Hoffnung eine nicht zu beeinflussende Größe ist. Ich habe Hoffnung oder eben nicht, ich kann sie weder herbeiführen noch abstellen. Deshalb spielt in meinem Alltag eigentlich Trost eine größere Rolle. Was mich beispielsweise tröstet: Freund*innen, die Unermüdlichkeit wachsender Pflanzen, ein funktionierendes Reißverschlussverfahren im Straßenverkehr, Tanz und mehrstimmiger Gesang. Und auch dein Brief. Denn die Bitterkeit und Zerbrechlichkeit, von denen du schreibst, können Menschen sprachlos machen, von dir aber habe ich einen Brief, der ist – was ist das Gegenteil von sprachlos? Sprachvoll?

Wie ergeht es dir mit der Sprache seit du vor zwei Jahren dein Land verlassen hast?? Hat sich dein Schreiben verändert? Was hoffst du und was tröstet dich?

Ich freue mich darauf, wieder von dir zu lesen, und hoffe, mein Brief erreicht dich bei guter Gesundheit und in Sicherheit.

Sehr herzlich

Paula

 

Dieser Brief entstand im Projekt „Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen“, eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben.

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