Man muss die Wunde öffnen, damit sie heilen kann – Brief 3
Fatema Haidari an Paula Fürstenberg, Semnan, 20. Juli 2024
Übersetzung: Bianca Gackstatter aus dem Persischen
Be nâme khodâ (Im Namen Gottes)
Hallo nochmal, liebe Paula,
ich hoffe, du bist gesund und wohlauf und frei von Sorgen! Ich habe deinen schönen und gedankenreichen Brief gelesen und mein Bestes gegeben, den Bedeutungsgehalt jedes einzelnen Wortes zu erfassen. Wie schön du deine Gedanken in Worte gefasst hast! Vielen Dank für diese Antwort auf meinen Brief.
Zu deiner Frage, was mir in diesen Tagen ein Trost ist: Ehrlich gesagt war ich in der ersten Zeit nach meiner Flucht während langer und eintöniger Stunden mit beschwerlicher Arbeit in einem Gewächshaus beschäftigt und habe Stunde um Stunde aneinandergereiht, bis es endlich Abend wurde und dann wieder Tag. Wie konnte ich noch einmal von vorn anfangen? Von einem Punkt unter null? Allmählich wurde mir klar, dass ich die ganzen letzten Jahre wie ein Rebhuhn verbracht habe, das den Kopf in den Schnee gesteckt hat und nichts von seiner Umgebung wahrnimmt. Nachdem ich aus meiner Heimat geflohen war, erwachte ich aus meinem selbstvergessenen Schlaf und begann, meine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Inzwischen weiß ich, dass der Schmerz, der sich bis ins Mark meiner Knochen hineingebrannt hat und sie zu Asche werden lässt, in Wirklichkeit eine Traurigkeit ist, die sich wie eine schwärende Wunde geöffnet hat. Man muss die Wunde öffnen, damit sie heilen kann. Und mit jedem Tag nimmt die Traurigkeit danach ein wenig ab. Vielleicht liegt mein Trost im Vergehen der Zeit.
Liebe Paula, mir ist aufgefallen, dass mein Herz, je mehr Jahre ich in dieser relativen Annehmlichkeit verbringe, desto mehr Wunden offenbart. Ich frage mich, wie es sein kann, dass ich, während ich in meinem Heimatland studierte, keine Ahnung von der Situation der Frauen dort hatte, die Analphabetinnen waren und harte Arbeit leisten mussten. Dabei muss ich an diese Verse aus Saadis Gedichten denken, die ich auswendig kenne:
Die Menschenkinder sind ja alle Brüder
aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder.
Hat Krankheit nur ein einzig Glied erfasst,
so bleibt den andern weder Ruh noch Rast.
Wenn andrer Schmerz dich nicht im Herzen brennet,
verdienst du nicht, dass man noch Mensch dich nennet.[1]
Jetzt verstehe ich ihre Bedeutung: Man soll nicht gleichgültig aneinander vorübergehen. Vielleicht war ich irgendwann einmal auch in einer solchen Situation oder werde es eines Tages sein? Trotz geringfügiger Unterschiede gehören wir ja alle zur gleichen Familie namens Menschheit.
Meine liebe Paula, wie schön du beschrieben hast, dass Hoffnung und Verzweiflung nur in einem gewissen Rahmen wirksam sind. Wird der Rahmen gesprengt, werden sie bedeutungslos. Deine Art, deine Depressionen zu lindern, ist ganz wunderbar. Das Tanzen setzt aufgestaute Energien frei, die in unbeschreibliche Freude münden. Von Zeit zu Zeit höre ich Musik oder Gesang, aber die schönste Musik ist für mich das Geräusch von Regen und Gewitter. Das wirkt unglaublich beruhigend auf mich.
Meine liebe Paula, vielen Dank, dass du dich nach meinem Befinden erkundigt hast. Zu deiner Frage, wie mein Verhältnis zur Sprache in den letzten beiden Jahren war, muss ich sagen, dass ich es liebe, Sprachen, auch ganz unterschiedliche Sprachen, zu lernen. Die letzten vier Monate habe ich damit verbracht, mir Grundkenntnisse des Deutschen anzueignen. Das macht mir große Freude. Meiner Meinung nach würden hundert Sprachen zusammen das Gegenteil von „Sprachlosigkeit“ am besten darstellen, aber natürlich ist das eine schlichte und nur meine persönliche Meinung, für Schriftstellerinnen wie dich kann das ganz anders aussehen. Zum Schluss möchte ich mich nochmal für deinen Brief und deine Anteilnahme bedanken und grüße dich herzlich in der Hoffnung, noch mehr so wunderbare Briefe von dir zu bekommen.
Fatema
[1] Muslih Ad-Din Sa‘di: Der Rosengarten.. Grundlage der Über von Karl Heinrich Graf neu bearbeitet, herausgegeben und kommentiert von Dieter Bellmann, München, Beck, 1998.
Dieser Brief entstand im Projekt „Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen“, eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben.