Ich werde aufstehen – Brief 4
Batool (Pseudonym) an Marica Bodrožić, 05. Januar 2022
Übersetzung: Sarah Rauchfuß
Marica! Wie geht es Dir?
Ich las Deinen Brief und habe dann stundenlang dagelegen und an die Decke gestarrt. Ich lauschte dem unregelmäßigen Knistern in den Stromkabeln, die leblos aus der Deckenleuchte über mir herausquellen, während kontinuierlich Sätze aus Deinem Brief in meinen Gedanken vorüberzogen.
Marica, irgendwie muss ich es schaffen, dieses verfluchte Bett zu verlassen. Ich muss aus diesem Zimmer verschwinden und muss weit weg von hier. Sehr weit weg. Weißt Du, Marica, ich denke, dieses Mal muss ich den Mittleren Osten wirklich verlassen, für immer. Mir zittern die Beine und in meinem blassen Gesicht rauscht das Blut – als läge es noch keinen Tag zurück, dass einer der Talibankämpfer auf der Straße nach meinem Sohn griff. Während er meinen Sohn zu sich zog, grinste er mich schamlos an. Er zeigte auf den Geländewagen hinter sich, weitere Talibankämpfer warteten dort. Er sagte mir: „Dein Sohn wird sich den Taliban anschließen, wir schicken ihn nach Pandschschir, damit er dort den Dschihad unterstützt, so wie Gott es will.“ Und ich fühlte, wie mir alles Leben aus dem Körper wich. Ich fühlte mich wie ein flottierendes Schwebeteilchen. Ohne Handlungsmöglichkeiten, ohne Macht, selbst eine Richtung vorzugeben. Ich fand in mir keine Worte, konnte ihn nicht einmal anflehen oder ihm widersprechen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich fühlte bloß meine Beine zittern und wie der Winter in mir einzog und dass er bleiben würde.
Marica, vor einer Woche schon hatte man sich in der Stadt erzählt, die Taliban nähmen jetzt die Jungen mit. Ohne die Familien zu informieren, nähmen sie die Jungen und die jungen Männer mit und machten sie zu Kämpfern für den Dschihad, für den „Weg Gottes“. Ich hatte davon nichts mitbekommen. Meine Tochter ist gerade dreizehn Jahre alt geworden. Aus Angst, sie zu verlieren, war ich mit meiner Familie die ganze Woche über von einem Ort zum nächsten gezogen. Um meine Tochter in Sicherheit zu bringen, hatte ich immer wieder den Ort wechseln müssen und kaum geschlafen. So habe ich nicht ahnen können, dass neben der Befürchtung, man könnte meine Tochter mit einem alten Mann verheiraten, bereits eine weitere Katastrophe heraufgezogen war. Als ich gestern morgen mit meinem Sohn losging, um Brot zu kaufen, hielt plötzlich, mit weißen flatternden Fahnen, auf denen sie den Namen Gottes tanzen lassen, ein Geländewagen der Taliban neben uns. Einer der Kämpfer sprang von dem Wagen hinunter. Inmitten des Herbstlaubes, das derzeit den harten Asphalt bedeckt, und inmitten der schneidenden Herbstluft, die einen kalten Winter ankündigt, wollten sie meinen Sohn zwingen, sich ihnen anzuschließen. Als sie nach meinem Sohn griffen, fielen ihm die warmen Brotlaibe, deren duftender Dampf die Luft erfüllte, aus den Armen. Wie das Lamm vor dem Wolf starrte er mich an, aus seinem zitternden Blick schrie es vor Angst: „Mutter!“ Und ich, mit meinem Kopf ohne Worte und mit Beinen, die drohten, unter mir nachzugeben, ich blickte bloß hoffnungslos den Soldaten an. Ich weiß nicht wie, Marica, aber irgendwie schrie ich mir innerlich selbst zu: „Wach auf! Beweg dich! Hier wird jede Sekunde teuer bezahlt, du darfst nicht eine davon aus der Hand geben!“ Und mit einem Mal ergriff ich fest den anderen Arm meines Sohnes und zog ihn zu mir. Es war, als würde ich, ganz allein, die Schwere und Entsetzlichkeit gewaltiger Meeresfluten auf mich ziehen. Mein Sohn war wieder an meiner Seite. Mit der anderen Hand gestikulierte ich in Richtung des Soldaten. „Nein!“, rief ich. „Nicht jetzt!“ Der Soldat war überrascht. Er trug ein Tuch um den Kopf gewickelt, seine Augen waren mit schwarzblauer Schminke umrandet. Wortlos wechselte er sein Gewehr von der einen in die andere Hand. Bevor er weitere Schlüsse ziehen konnte, sagte ich ihm: „Der Vater des Jungen ist krank. Wir müssen ihn gemeinsam zum Arzt bringen. Aber seien Sie ganz ohne Sorge, sobald der Vater dort ist, bringe ich Ihnen meinen Sohn persönlich vorbei. Ich übergebe Ihnen meinen Sohn, damit er sich auf den Weg Gottes begibt. Ich gebe Ihnen mein Wort, ich bringe Ihnen meinen Sohn …“ Ich sah dem Talibankämpfer fest in die Augen. Ohne etwas zu sagen, ging dieser zum Geländewagen zurück. Mit dem Kopf bedeutete er mir, dass er warten würde.
Marica! Erst als sich der Geländewagen entfernte und an der nächsten Kreuzung verschwand, wurde mir bewusst, dass sie meinen Sohn nicht mitnehmen würden, und ich brach zusammen. Meine Knie konnten die Last der Angst, die mich plötzlich überströmt hatte, nicht mehr tragen. Sie wollten so viel Unterdrückung und Leid nicht länger dulden. Mein Sohn beugte sich über mich und weinte ganz leise. Er interessiert sich leidenschaftlich für Mathematik und möchte einmal ein erfolgreicher Arzt werden. Aber hier, auf dem toten Mutterboden dieses Landes, soll er sich stattdessen ein Gewehr, das mehr wiegt als er selbst, auf die Schultern hieven und in den Krieg ziehen. Und das alles für Überzeugungen, die die Welt nur noch düsterer machen werden. An der Seite der Aasgeier soll er für noch mehr Zerstörung in der Welt kämpfen. Noch mehr Zerstörung, noch mehr Tod. Dabei sollten doch seine einzigen Schützengräben Wissenschaft und Forschung sein. Und sein einziger Kampf der für Bildung und eine fruchtbare Zukunft. Ich bin mit meinem Sohn nach Hause gerannt und habe mit meinen beiden Töchtern gleich wieder den Ort gewechselt, bin ein weiteres Mal an einem fremden Ort in einer mir immer fremder werdenden Stadt untergekommen.
Marica! Ich habe das Bett verlassen. Ich habe den letzten Satz Deines Briefs noch einmal gelesen, es war das Zitat von Viktor Frankl:
„Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist!?“
Und ich entscheide – stärker als alle Gegenkräfte –, dass ich aufstehen werde von diesem Bett. Und so werde ich auch diesen Ort verlassen können. Das Land. Meine ganze Vergangenheit. Ich muss alles, was ich besitze, und alles, was ich aufgebaut habe, zurücklassen und mich, bepackt mit einer müden Seele und mit Angst vor einer Zukunft, in der für mich noch alles im Dunkeln liegt, weiterschleppen. Ich muss weiter, weiter, weiter. Bis ich zu einem Ort gelange, an dem ich diesem Nichtsein, diesem Nichtgewesensein, wieder ein Werden, eine Lebendigkeit verleihen, es – mit den Worten Frankls – mit Sinn verbinden kann. Wo ich grünen, wachsen und wurzeln kann – und das alles nicht allein, sondern mit allen meinen Kindern. Meine ganze Zukunft lang und mit jedem neuen Morgen werde ich wachsen. Ich werde ein großer Baum sein, mit starken Wurzeln, die die Erde durchziehen, so dass weder Sturm noch Flut ihn erschüttern können. Danke, Marica, dass Du mir diesen Brief rechtzeitig geschickt hast. Er ist für mich zu einem Lichtfenster geworden, in dem ich mein Gesicht wie die großen Blüten der Sonnenblumen dem Sonnenschein zuwenden kann.
Wirklich, Marica. Wünsche Dir etwas für mich. Wünsche mir die Kraft, weiterzumachen. Wünsche mir, nicht müde zu werden. Dass ich den Mut nicht verliere. Dass ich weitergehe. Weiter, weiter, weiter.
Bete für mich, Marica.
Batool
* Dieser Brief wurde zuerst im Magazin DER SPIEGEL (Nr. 9 / 26.2.2022) unter dem Titel „Jede Sekunde teuer bezahlt“ abgedruckt.
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