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Lasst Ziba euch was vorlesen

Bahram Moradi
© Ramin Parvin, aus der Serie "Shadow Memories", Mixed Media auf Papier (2014)

2005

Wenn Ziba* erzählt, wie sie damals war, dann sagt sie, damals sei sie nur auf Sex aus gewesen. Damals, das heißt, als sie noch nicht mit Mehdi verheiratet gewesen war. Während sie das so sagt, vermitteln die straffe Haut ihres Gesichts und ihr schlanker Körper nicht den Eindruck, dass seit „damals“ besonders viel Zeit vergangen ist, auch wenn sie selbst meint, es sei eine halbe Ewigkeit. Ein paar Monate liegt ihre Scheidung jetzt zurück. Gerade erst ein Jahr war es her gewesen, dass sie geheiratet und ihren Freunden und Bekannten alles Mögliche aufgetischt hatte, als sie plötzlich bekanntgab, sie und Mehdi würden sich trennen.

 

Sie hatte Mehdi auf einer Party kennengelernt. Es war eine jener Partys, auf denen sich Dichter, Schriftsteller und Filmemacher tummeln, die, wiewohl die Veröffentlichung ihres ersten Werkes noch in weiter Ferne liegt, während sie Joints von Hand zu Hand wandern lassen und ein Glas nach dem anderen heben, untereinander über alles und jeden herziehen – über Ausländer wie Iraner, egal, ob tot oder lebendig, und ganz gleich, wie virtuos –, dabei große Reden schwingen und ankündigen, schon bald würden sie etwas produzieren, das die Welt aus allen Wolken fallen ließe. Mehdi war gutaussehend und kam nicht schlecht an bei den Frauen; er war Filmemacher. Noch hatte er keinen Film gemacht, aber viele hielten ihn für einen kreativen Kopf. Auf der besagten Party hatte Mehdi Gefallen an einer Frau gefunden, die zwar nicht Ziba war, aber doch schön in seinen Augen. Er hatte noch an Ort und Stelle jemanden angerufen und sich die Handynummer der jungen Frau geben lassen. Ziba hingegen, der auf den ersten Blick klar gewesen war, dass sie den Mann ihres Lebens gefunden hatte, hatte dieselbe Person angerufen und sich Mehdis Handynummer besorgt. Und da Männer bei dieser Art von Spiel, ehe sie dazu kommen, selbst etwas zu unternehmen, bereits geheiratet und zwei Kinder bekommen haben oder zumindest sich an einer Hochzeitstafel wiederfinden, verdutzt, dass diese Frauen nur für das Zerreiben eines Zuckerhuts über ihren Köpfen so ein Aufhebens um sie machen, hatte Ziba bereits gewonnen, als sie Mehdi am darauffolgenden Morgen angerufen hatte, um zu fragen, ob er diese oder jene CD besaß oder nicht, sich mit dem Nein nicht hatte abspeisen lassen, darauf über irgendwelche anderen Dinge gesprochen hatte, über Filme, Literatur, Malerei und übers Zeichnen, dann gefragt, was bedeutet dieses, und Mehdi darauf gesagt hatte, es bedeutet jenes, und schließlich, Mädchen, jeder, der auch nur vier Bücher gelesen hat, weiß das, und Ziba erwidert hatte, ich verschwende meine Zeit nicht mit Bücherlesen, und darauf Mehdi, kann es sein, dass du mich verführen und was mit mir anfangen willst, worauf Ziba gemeint hatte, nein, ich will deine Frau werden, woraufhin Mehdi dann zu schwafeln angefangen und geredet und geredet und versucht hatte, diesem herausgeplatzten Ich-will-deine-Frau-werden noch eine romantische Note abzuringen, bis man ihn zwei Wochen später an einer Hochzeitstafel sitzen sah, wie er zwischen langatmigen Ausführungen über Kieślowski und Jean-Luc Godard und Bertolucci und Derrida einmal laut Ja sagte. Jetzt sagt Ziba, Mehdi sei natürlich ein guter Kerl, aber ihr sei klar geworden, dass sie nicht zusammenleben könnten. Schön und gut, Ziba fährt in die Berge, wenn ihr danach ist, fährt weg, kommt wieder; ruft morgens Mehran an, fragt, wo er sei, sagt, er solle kommen; sie fahren ein bisschen im Auto herum, fahren nach Bam-e Teheran hoch über der Stadt; ruft nachmittags dann Ali an, sagt ihm, er solle mal abdrehen mit seinem Motorrad und zum Vanak-Platz kommen, sie abholen, dass sie ein bisschen durch die Stadt ziehen; geht abends in das Café, in dem sich Freunde von früher treffen und interessante Gespräche führen. Ziba ist redegewandt, ist herzlich, ist locker. Um es bequem zu haben und sich wohlzufühlen, fragt sie, wenn sie bei Freunden eingeladen ist, die Gastgeberin nach einem Rock; zieht ihre Hose aus, schlüpft in den Rock, zieht die Bluse aus; im Top oder T-Shirt fühlt sie sich wohler. In meiner Familie sind alle ungehemmt und locker, sagt sie. Dann unterhält sie sich, später greift sie in ihre Tasche und holt einige Zettel hervor, jetzt lasst Ziba euch was vorlesen, sagt sie und betont, dies sei das Neuste von ihr, obwohl einige unter den Zuhörern sind, die, als sie die Wörter und Sätze hören, das vage Gefühl beschleicht, sie hätten sie schon mal von irgendwem gehört oder in irgendeinem Buch gelesen.

Sobald sie mit dem Lesen fertig ist, schnorrt sie sich eine Zigarette von einem Sitznachbarn, steckt sie an und lässt ihren Blick über die rauchverhangenen Gesichter in der Runde schweifen, fragt, hat es euch gefallen, nimmt einen zweiten Zug und beginnt von einem Filmemacher zu erzählen, der vorhabe, einen Film über ihr Leben zu drehen. Genau genommen sagt sie es so: Ein berühmter Filmemacher, dessen Namen ich jetzt nicht nennen will, möchte einen Film drehen, der auf meinem Leben basiert, und ich soll darin mitspielen. Einem der Anwesenden fällt ein, dass er einen frischgebackenen Drehbuchautor kennt, der gemeinsam mit einem Amateurregisseur an einem Drehbuch schreibt, dessen Protagonistin eine Frau ist, die versucht, auf eigenen Beinen zu stehen. Er entfernt sich aus dem Kreis, ruft den neuen Drehbuchautor an und fragt, sag mal, hast du Ziba letztens getroffen, wer ist Ziba, fragt der Drehbuchautor, Ziba Dings, sagt der andere, du weißt schon, diese Ziba, die … – na, wenn sie gut ist, schick sie mal bei mir zum Casting vorbei, sagt der Drehbuchautor. Und lacht.

2010

So lebt Ziba. Manchmal arbeitet sie, manchmal – so sagt sie selbst und lacht – hängt sie sich an jemanden, wobei sie mit „jemand“ einen Mann meint, versteht sich. Wenn sie arbeitet, so macht sie doch nicht alles. Ich mache nur einzigartige Sachen, sagt sie, nur wenn es so richtig einmalig ist, arbeite ich. Zum Beispiel beauftragt sie einen ihrer Künstlerfreunde damit, kleine Bilder anzufertigen, die sie druckt und in kleine Rahmen steckt; dann geht sie mit ein, zwei Freundinnen in die Metro, sie nehmen die längste Strecke und verkaufen die Bilder. Oder sie beschwört den einen oder anderen, jetzt, wo die Reichen so verrückt seien nach Vintage-Tischen, -Sitzmöbeln und -Spiegeln, Kopien davon zu bauen; sie würde die Kunden dafür schon finden. Zuletzt stand sie zwei, drei Mal Modell für einen Schneider, dessen Entwürfe zwar keine Begeisterungsstürme auslösten, aber nun, gut Geld hatte er. Einer seiner Fotografen hatte Ziba angesprochen, komm zu mir nach Hause, dann schießen wir ein paar Nacktfotos. Nur wenn ich eine dieser Masken aufsetzen kann, die die Frauen im Süden tragen, hatte Ziba gesagt. Jetzt kommst du erst mal und dann sehen wir, hatte der Fotograf darauf gemeint.

Ziba schläft eine Nacht hier, eine Nacht dort. Ein Rucksack ist ihr ganzes Leben. Nicht, dass sie keine Familie hätte, die hat sie, aber jemanden, der gern in den wohlhabenden Vierteln im Norden Teherans verkehrt, kostet es Nerven, jede Nacht zu einer Wohnung im ärmsten Viertel im Süden dieser Stadt zu fahren, die eigens dafür gebaut zu sein scheint, dass man sich in ihr verliert; es kostet Nerven, an einen Ort zu gehen, an dem die Leute, ganz gleich, wie oft du ihnen sagst, dass du Ziba genannt werden willst, nicht darauf eingehen. Was sie verdient, legt Ziba zurück, für Gras oder Alkohol gibt sie kein Geld aus. Das kann man sich bei diesem oder jenem Typen zu Hause geben, im äußersten Fall hängt man sich eben wieder an jemanden. Wenn du dir das afghanische Hasch gibst, sagt sie, dann verstehst du, was ich meine, plötzlich siehst du die Fäden, einen Haufen bunter und farbloser Fäden siehst du vor dir und wenn der Rausch perfekt ist  – wenn du „chet“ bist, wie wir sagen würden – findest du in all diesen Fäden einen, der nur für dich bestimmt ist, packst ihn mit den Augen und folgst ihm und gehst los und gehst und gehst, an einen Ort, an den du nie zuvor gegangen bist.

2012

Und so geht und geht Ziba und dreht ihre Runden und lernt eines Tages einen Mann kennen mit dem seltsam fremden Namen Alaba. Dieser Alaba unterrichtet Japanisch, mit seiner Mutter lebt er in einem sehr alten Haus aus der Kadscharenzeit; Jiu-Jitsu-Kämpfer ist er und noch sonderbarer als sein Name ist, dass er immer chet ist und all diese Dinge vollkommen zugedröhnt macht und es auch kein Rauschmittel gibt, das nicht schon durch seine Hände gegangen wäre. Alaba ist überzeugt, dass einer, der Fäden sieht, wenn er chet ist, noch ein Amateurchetist sei, ein ernsthafter Chetist sei erst, wer die Fäden spüre, sich aufspalte und mit jedem Partikel seiner Existenz einen dieser Fäden aufnehme und so an Orten lande, an denen die Ordnungsprinzipien von Raum, Zeit und Volumen keine Rolle mehr spielten. Zuweilen nimmt er Ziba mit zu sich nach Hause; in einem Zimmer ganz in Weiß und ohne alles ziehen sich die beiden aus und Alaba holt eine gläsernen Apparatur – „mein Alambik“ nennt er sie –, streut etwas hinein, hantiert damit herum und die beiden legen los. Zwei Tage darauf, manchmal auch drei oder vier, wenn Ziba wieder zu sich kommt, setzen sich ihr schachbrettartig Bilder zusammen, vom Tanzen, vom Herumrollen auf dem Fußboden, vom Wändehoch- und Deckenentlanglaufen und krassem Sex mit dutzenden Zibalabas. Dann steht sie auf und geht nach draußen, um nachzusehen, ob die Welt, die einst dort war, noch da ist oder nicht.

2015

Ziba geht auch auf Reisen, allein nicht, nur in Gesellschaft mit unterhaltsamen Leuten. Fahr in die Wüste, hatte Alaba einmal gesagt, aber chet, chet, chet musst du sein, damit du verstehst, was die Wüste bedeutet. Ziba hatte darauf gedrängt, dass er mitkäme, aber Alaba hatte gesagt, er habe mit seinen täglichen Verpflichtungen zu tun. Ziba scharte ein paar Leute um sich und sie nahmen das Auto des einen und fuhren los, aber keiner war bereit, auch nur einen Fuß in die Wüste zu setzen. Wenn du chet bist, macht es keinen Unterschied, ob du in der Wüste bist oder nur an ihrem Rand stehst, sagten sie. Auf Zibas Vorschlag hin stiegen sie auf das Dach des Autos, dröhnten sich dort zu und als sie wieder zu sich kamen, wussten sie nicht, ob die Sonne, die sie da vor sich sahen, auf- oder unterging.

Ziba war auch mal in Indien, wieder zusammen mit ein paar anderen Männern und Frauen. Du willst eine ernsthafte Chetistin sein und hast Indien nicht gesehen, hatte Alaba einmal gesagt. Er selbst war schon bis nach Tibet gekommen. Mit oder ohne Faden, hatte Ziba gefeixt. Geh, damit du begreifst, was ich meine, hatte Alaba gesagt.

Ziba geht nach Indien. Gleich die erste Nacht verbringt sie an irgendeinem Ort am Strand, so stoned, dass sie sich nicht erinnern kann, welcher Strand es gewesen ist und wo. Dort lernt sie einen Schweden kennen, einen ernsthaften Chetisten, blond und blauäugig; von dort, wo Tibet liegt, ist er sogar noch bis zum Himalaya gegangen. Die beiden schießen sich so weg, dass es am Morgen darauf einen Moment dauert, bis sie verstehen, dass sie keine Fische sind und auch nicht im Meer leben. Als er etwas ausnüchtert, fragt der Kerl aus Schweden Ziba nach ihrer Adresse und Telefonnummer, weil er als ernsthafter Chetist weiß, dass die Chetisten im Rauschzustand so einige Sachen machen, die sie nicht machen, wenn sie nüchtern sind. Zwei Monate später, als Ziba bei Alaba zu Hause wieder einmal völlig außer Rand und Band gerät, um sich selbst aufzuspalten und ihre Partikel mit den Fäden zu verbinden und jede davon in unzählige Niemandsländer zu schicken, steht der Typ aus Schweden direkt vor Alabas Haustür. Und wie ein blauäugiger Blondschopfschwedenchetist hierhergefunden hatte, das war eines dieser Wunder, für die auch Alaba ein Beispiel war. Alaba meint, Thorbjørn – der schwedische Kerl – gehöre zu der sehr geringen Anzahl an Chetisten auf der Welt, die wüssten, wo sie sämtliche Partikel ihres Körper komprimieren müssten, um an ebenjenen Ort zu gelangen, an den ihr Hauptfaden sie führe Und so geht Ziba nach Schweden und wird offiziell die Frau von Thorbjørn, dem schwedischen Blondschopfchetisten.

2021

Jetzt hat Ziba zwei Kinder. Sie lebt in einem Haus mitten im Wald, in dessen Umkreis von zwei Kilometern kein anderes Haus steht, und zieht dort ihre Kinder groß. Der Blondschopfchetist von früher ist jetzt Angestellter bei einem Onlineversandhaus und hofft, dass seine Kinder ihn in Ruhe lassen, wenn er müde von der Arbeit nach Hause kommt und er dann noch ein, zwei Fäden ausfindig machen kann. Und wenn Ziba Zeit findet, denkt sie darüber nach, sich vielleicht scheiden zu lassen, sich eine Arbeit zu suchen. Nur welche? Für eine wie sie, die nicht zur Arbeit taugt, nichts gelernt und keine besonderen Kompetenzen hat. Schließlich bin ich eine Frau, sagt sie der jungen Studentin, die gerade aus dem Iran gekommen und bei ihnen zu Besuch ist. Alaba hat am Telefon erzählt, dass er und seine Freunde mit drei jungen Frauen Gruppensex hatten, sagt sie aufgeregt, und nachdem sie sich ein bisschen unterhalten hatten, haben sie anscheinend gesagt, dass sie mich – mich, Ziba – kennen würden; und weißt du, wer sie waren? Drei Kusinen von mir! Ich war total baff – damals, als ich in Teheran auf die Pauke gehauen habe, haben die noch in Dörfern bei Isfahan Ziegen gehütet, jetzt sind sie nach Teheran gekommen und halten sich da über Wasser; ja, eine Frau, die es versteht, eine Frau zu sein, bleibt niemals auf der Strecke. Dann dampft sie in die Küche ab, um zu kochen, macht den Haushalt, rennt den Kinderärschen hinterher, damit ihre Pampers nicht plötzlich vollgeschissen sind und sie irgendwas einsauen und Ziba nicht merkt, dass es stinkt, und der ehemalige Blondschopfchetist und heutige Angestellte aber schon und dann eine Szene macht. Spät in der Nacht geht sie mit ihrem Gast in den Garten, um Gras zu rauchen; ich sehe schon weniger Fäden, sagt sie, ich muss in den Iran zurück, mich auf den neusten Stand bringen; dann geht sie los, holt Stift und Papier und schreibt hastig etwas auf; lass Ziba dir was vorlesen, sagt sie.

 

*Der Name Ziba ist zugleich das persische Wort für schön.

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