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Das Gewicht der anderen

Bahram Moradi
© Shirin Ashkari ,Titel: How to describe the loneliness and detachment from the time?, Öl auf Leinwand, 145cm x 155cm  (2021)

Kontext:

Iran, Frühsommer 1360 (Juni 1981): Das postrevolutionäre Regime der Islamischen Republik erklärt die Aktivitäten aller Parteien für verboten und beginnt, politische Aktivisten zu unterdrücken. Tausende werden festgenommen, allein in den ersten Tagen werden hunderte Personen ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Eine Oppositionsgruppe beginnt, Terroranschläge auf Regimeanhänger zu verüben. Der Roman „Das Gewicht der anderen“ erzählt die Geschichte von Peyman Bamshad, der als dreizehnjähriger Junge in jenen Tagen festgenommen wird, ohne in irgendeiner Weise politisch aktiv zu sein. Erst Jahre später kommt er frei, körperlich und psychisch gebrochen. Jetzt, im Alter von vierzig Jahren, versucht er, sein Leben zu erzählen, um mit der belastenden Erinnerung an die anderen abzuschließen, die gefoltert, hingerichtet oder seelisch versehrt entlassen wurden.

 

Mein „Thriller“

Am Abend des elften Juli einundachtzig steht um zehn nach sechs ein Jeep des Revolutionskomitees an der Doktorha-Kreuzung in Maschhad mitten auf der Straße und lässt Blut aus seinen verschlossenen Türen laufen. Die Scheiben sind ebenfalls blutverschmiert. Der Motor läuft noch, der Scheibenwischer schwingt hin und her. Links-rechts, rechts-links. Sein Maschinenverstand ist zu beschränkt, um zu kapieren, dass die Scheibe von innen gereinigt werden muss. Die Ampel wird grün. Autos kommen heran, fahren vorbei. Die Fahrer treten kurz in die Bremsen, glotzen rüber, schnalzen missbilligend, setzen ihren Fuß aufs Gaspedal, passieren die Kreuzung. Aber das blutbeladene Auto wartet offenbar auf eine andere Farbe. Eine Herde Menschen versammelt sich um den Jeep, jeder will unbedingt einen Blick reinwerfen. Sie wissen noch nicht, was los ist. Unter ihnen ein schlaksiger Junge, dreizehn Jahre und zweihundertdreiundfünfzig Tage alt, der nicht die Geduld hat, den Scheibenwischern zuzusehen, deren IQ nicht so weit reicht, dass sie Blut von Wasser unterscheiden könnten, und deswegen beginnt, sich mitten durch den Strom an Autos und ihrem Gehupe hindurchzuschlängeln, auf die andere Seite der Kreuzung, wo er vor einer Buchhandlung stehenbleibt, an der Straßenecke. Nur wenige Schritte hinter ihm steht ein blutbesudelter Jeep an der Ampel und er schaut sich die Bücher im Schaufenster an. Er ist kein großer Leser, es gefällt ihm einfach, die Bücher hinter dem Glas anzusehen. Hier steht und steht und steht er. Bis ein fetter, bärtiger Mast von einem Mann zu ihm herankommt. Sie wechseln ein paar Worte miteinander und mit einem Mal fixiert der Bärtige dem Jungen die Arme auf dem Rücken, stößt ihn zu Boden und setzt sich auf ihn. Am Abend des elften Juli einundachtzig um siebzehn Minuten nach sechs verschwand Peyman Bamshad an der Doktorha-Kreuzung in Maschhad.

Als er nicht nach Hause kam an dem Abend, übergab sein Vater den Polizeibeamten einen vollständigen Steckbrief. Statur: hochgewachsen. Augenfarbe: braun. Haarfarbe: schwarz. Kleidung: verwaschene Jeans, weiße Turnschuhe, cremefarbenes kariertes Hemd mit Tasche auf der linken Brust. Ihr Junge war niemals leichtsinnig gewesen und hatte ihnen nie Ärger gemacht, sagte seine Mutter. Sie sagte war und hatte, weil von ihrem dritten Sohn jede Spur fehlte. Sie ham den Jungen festgenommen, hatte sein Vater schon da rundheraus gesagt. Genauso scharfsichtig wie damals, als sein Ältester, Pirouz, drei Wochen lang nicht angerufen hatte und er meinte, der Junge is untergetaucht, wer weiß schon, in welcher Widerstandszelle.

Ich, Peyman Bamshad, bin am Abend des elften Juli einundachtzig an der Doktorha-Kreuzung in Maschhad verschwunden, so dass zwei geflügelte Worte meines Großvaters bestätigt wurden, wieder einmal. Nämlich: Mit dem Verstand von Schlaksen ist es nicht weit her und: Wer Bücher liest, bringt nichts zustande. So war, nachdem ich verschwand, mein erster Entschluss, kein Buch zu lesen, niemals. Ich habe auch noch andere wichtige Entschlüsse gefasst: Nie wieder eine Jeans anzuziehen, nie wieder weiße Turnschuhe zu tragen, mir niemals jemals falsche Hoffnungen zu machen, dass Mama und Papa mich finden könnten, was zusammen mit dem Entschluss, dieses und jenes anzuzweifeln, fünf wichtige Entschlüsse machte – die ich niemals in die Tat umsetzen konnte. Wenn man dreizehn Jahre und zweihundertdreiundfünfzig Tage alt ist, fasst man viele Entschlüsse. Wenn alle Entschlüsse, die Menschen in diesem Alter treffen, in die Tat umgesetzt würden, wie viel mehr Männer wären Piloten oder Fußballer und wie viel mehr Frauen Filmstars.

Diese Entschlüsse stürmten Peyman Bamshad in den Kopf, als man ihn einhundertzwölf Tage vor seinem vierzehnten Geburtstag zwang, ein paar kleine Fragen zu beantworten, denn in so einem Durcheinander, in dem die Straße abgeriegelt und jeder festgenommen wurde, der verdächtig war, da machte man sich doch aus dem Staub, und weil er sich nicht aus dem Staub gemacht hatte, musste er doch zweifellos Sand im Schuh haben, und weil es nur so sein konnte, musste er ihnen die kleine Frage beantworten, was für Sand da in seinem Schuh war.

Obwohl Peyman Bamshad keinen Sand im Schuh hatte, hätte er, um zu vermeiden, dass er verschwände und nicht mehr aufzufinden wäre, die Zeit vor sechs Uhr zehn gerne zurückgedreht: Bevor er die Geduld mit dem Maschinenverstand des Scheibenwischers verloren hätte, wäre er an den Straßenrand gegangen und dann rückwärts den Weg zurück, den er gekommen war; zur Sanabad-Kreuzung, wo er sich gefragt hatte, ob er lieber die Rahnamai-Gabelung überqueren und dann die Ahmadabad-Straße hinunterlaufen sollte oder auf der Sanabad-Straße bleiben, anschließend weiter auf der Ebne-Sina-Straße und dann abbiegen in die Universitätsstraße und zur Doktorha-Kreuzung. Arglos wäre er durch die Straßen geschlendert, hätte rückwärts den Rahnamai-Verkehrskreisel überschritten, dann rechts den ehemaligen Reza-Schah-Kabir-Boulevard genommen, heute Wasserwerke-Boulevard, und wäre wieder zu Hause gewesen. Hätte jetzt der Geruch von Erschöpfung und Überdruss über allem gehangen, wär das schon okay gewesen, besser als verschwunden zu sein wär’s allemal. Er würde sich setzen und den sich wiederholenden Film der Familie Bamshad zu sehen bekommen: Sein Vater würde Überstunden in der Bank machen und spät nach Hause kommen, seine Mutter würde staubwischen, kochen und ständig eine Gelegenheit finden, ein paar Tränen darüber zu verdrücken, dass zwei ihrer Kinder fehlten. Ihren ältesten Sohn, Pirouz, hatten sie das letzte Mal vor fünfundzwanzig Tagen gesehen. Von da an hatte er sporadisch angerufen und gesagt, mir geht‘s gut, macht euch keine Sorgen. Frau Mama hatte nur gesagt, möge Gott dich beschützen, mein Pirouz, pass auf dich auf. Jetzt war es drei Wochen her, dass Pirouz angerufen hatte. Auch von der Arbeit bei der Baufirma sei er spurlos verschwunden, sagte Baba.

Mamas zweite Sorge war ihr zweitältester Sohn, Payam, der zuerst seinen Namen in Salman geändert hatte – weil er glaubte, dass Payam ein Name für vorrevolutionäre Tyrannen sei und Salman ein göttlicher und authentisch islamischer – und der dann vor einem Monat, als er sechzehn wurde, an die Front gegangen war. Die dritte Sorge der Frau Mama wanderte durch die Zimmer der Wohnung, stampfte mit ihren Füßen auf den Boden, weinte, brüllte zwischendurch, war manchmal harmlos wie eine Maus, aber in all diesen Zuständen hieß es immerfort bitte, bitte Mama, bitte lass mich auf die Straße und mit den Kindern spielen. Das war Parinaz. Eine Hexe. Eine, die alles und jeden an die Grenze des Wahnsinns treiben konnte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Der dreizehn Jahre und zweihundertdreiundfünfzig Tage alte Schlaks, der Einzige, mit dem Frau Mama keine Sorgen hatte, hörte sich das Gekeife der verrückten Hexe an und anstatt aus seinem Zimmer zu stürmen wie ein paar Wochen zuvor und Parinaz anzubrüllen halt dein Maul, Dumpfbacke, worauf der Hexe erst recht Hörner gewachsen waren und sie auf ihn losgestürmt war und mit ihren Fäusten auf seinen Körper getrommelt hatte, woraufhin er ihr an den Haaren zog, saß er in seinem Zimmer und dachte an überhaupt nichts. Er hörte Frau Mamas Stimme, wie sie versuchte, die Hexe dazu zu bewegen, die Kinder zum Spielen in ihren großen Innenhof zu holen und dann Parinaz‘ lautes Klagen – Aber Mama, die Kinder wollen doch auf der Straße spielen, Mensch! Nein, unmöglich, die Hexe konnte nicht runter auf die Straße gehen zum Spielen. Sie war groß für ihr Alter, kam nach ihrer Mutter, wie alle Kinder. Wer das Gesicht dieser Hexe nicht gesehen hatte, konnte sie fälschlicherweise für eine erwachsene Frau halten. Und eine junge Frau, die auf der Straße spielt, da würden die Nachbarn zu tuscheln beginnen; mal abgesehen davon, dass die Sittenstreife es ohnehin nicht tolerieren würde, ein weibliches Wesen so unverschämt zu sehen.

Hier, genau in diesem Moment, hatte der Schlaks den Entschluss gefasst, spazieren zu gehen. Warum? Einfach so, damit ihm vielleicht etwas leichter ums Herz würde (für die Zukunft musste er sich vornehmen, sich selbst und diesen und jenen seiner Entschlüsse gründlich-grundsätzlich in Zweifel zu ziehen). Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Exakt einundzwanzig Minuten nach fünf (pünktlich um sieben Minuten nach sechs würde der Film von dem Jeep ausgestrahlt werden, aus dem an der Doktorha-Kreuzung in Maschhad Blut läuft), einhundertundzwölf Tage noch und das dreizehnte Lebensjahr wäre um, und der Beschluss, unter diesen Bedingungen spazieren zu gehen, schien ihm weder sonderbar noch abwegig; aber er war es, wie sich später herausstellen sollte. Er ging raus aus dem Zimmer, sagte, er drehe eine Runde. Die Hexe stieß einen Schrei aus, wieso darf der runter auf die Straße und ich nicht, wiiiiieeso?! Er ist ein Junge, sagte Mama. Mir egal, was er ist, ich will auch raus! und das Füßestampfen ging wieder los und der Schlaks schlüpfte nach draußen und sah den Ringkampf nicht, den Frau Mutter mit der Hexe austrug. Er ging raus und verschwand.

Es waren viele Fragen: Die Doktorha-Kreuzung ist nicht plötzlich vom Erdboden verschwunden, oder etwa doch? – Ist sie nicht. Und die Sache mit dem bluttriefenden Jeep ist auch kein Film gewesen, richtig? – Kein Film. Und da war doch ein Schlaks auf der anderen Straßenseite, war er nicht? – War er. Und der Schlaks hatte Schuhe an, oder nicht? – Hatte er. Und folglich hatte er Sand im Schuh, richtig? – Hatte er nicht. Was für Sand war das? – Da war kein Sand. Folglich was war da dann folglich? – Nichts war da folglich. So, und welchen Sand? – Keinen Sand. Fragen über Fragen. Die Antworten, so wie sie da herausgeschossen kamen aus dem Mund eines schlaksigen Dummkopfs, waren keine Antworten, waren Verschleierungen, Vertagungen, Verschiebungen. Schwer waren diese Fragen, schwerer als die Abschlussprüfungen in der Schule sogar. Du bleibst also folglich hier bei uns zu Gast, eine Weile, bis du lernst zu antworten, sagten sie. Wie lange? – Mund halten, sagten sie, keine Fragen auf die Fragen, nur Antworten, folglich. Folglichfolglichfolglichfolglich. Dann schickten sie mich in eine der Sammelzellen, bis zum nächsten Verhör. Die Zelle war ein Raum des ehemaligen koedukativen Alam-Gymnasiums; weil es ein Tyrannei-Gymnasium gewesen war und weil es gegen den Gott der Freiheitskämpfer war, dass Mädchen und Jungen zusammen in einer Schulbank saßen und weil Asadollah Alam der listige Berater der Tyrannenclique gewesen war, aus all diesen Gründen ehemalig. Aus dem Gymnasium hatten sie eine Untersuchungshaftanstalt gemacht, aus den Klassenzimmern Zellen, aus dem Labor eine Folterhalle und der Tyrannei und dem globalen Imperialismus damit einen festen Kinnhaken verpasst, ein für alle Mal. Da gab es Kinder, die während der Zeit der Tyrannei in diesen Klassenräumen gesessen hatten, damit in der Zukunft etwas aus ihnen werde, und aus denen jetzt etwas geworden war: konterrevolutionäre Heuchler, ungläubige Feinde des Islam.

 

 

*Der Text ist ein Auszug aus dem Roman „Das Gewicht der anderen“, der 2021 auf Persisch im Alqesseh Verlag (USA) erschien. Im Iran durfte er nicht erscheinen, wurde dort jedoch im Untergrund gedruckt und verbreitet.

 

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