Ein langgezogenes, heiseres „I“
... der das Leben nur an der Oberfläche erträglich findet …
Paul Auster, Erfindung der Einsamkeit
Deutsch von Werner Schmitz
Nina sitzt da, umhüllt von flatternden Blättern.
02.05.2021
Versuch 3
Nina sitzt da, umhüllt von flatternden Blättern. Manche hauchdünn, ausgeblichen, vergilbt, abgegriffen, zerfranst. Andere farbkräftig, messerscharf, schneidend. Nina ist nur schemenhaft auszumachen. Wirkt zart wie ein Halm, der sich – belagert von so viel Schwere – kaum aufrecht halten kann.
17.09.2021
Versuch 13
Nina hat ein nerviges Organ. Schrill, vorlaut, etwas aggressiv, mitunter herrisch. Sie schmettert aus dem Nichts los und bricht mitten im Satz ab, so dass in der Schwebe bleibt, was sie meint. Ist sie aber gelöst, was hin und wieder vorkommt, dann spricht sie leise und eine wohlige Hauchigkeit klingt durch.
Sie hieß nicht wirklich Nina. Aber wie alle Mädchen, die nach der Großmutter benannt sind, hasste sie ihren Namen.
„Naiiiiiiiima“,
kreischte die Oma. Elend in die Länge gezogen, erinnerte der Name an ein heimlich aus dem städtischen Verteilerkasten abgezweigtes Kabel. Hing durch und war instabil. Jeder noch so banale Außeneinfluss - Steine werfende Kinder, rastende Vögel, flüchtige Wäsche von Nachbars Leine – konnte bewirken, dass „Naima“ unvollendet aus dem Mund der Nörgeloma abstürzte.
„Naiiiiiiiima“,
rief die Lehrerin.
„Naiiima, Naima,
"Warum ruft er denn nicht an?" johlten die Mädchen aus der letzten Reihe das berühmte Lied im Chor.
Nina hörte sich das Gehänsel an und verteilte später auf dem Schulhof Prügel. Doch dann, nachdem sie von Lehrerinnen und Rektorin wiederholt gekränkt worden war, etliche Verweise bekommen hatte und ihre Eltern zum Gespräch in die Schule mussten, was zu Hause zusätzlichen Ärger schuf, staute Nina ihre Wut an, hielt die Tränen zurück, füllte sich mit Salz.
„Naiiiiiiiima,
der Wievielte ist heute?“, fragte die Mutter jeden Tag. Der Monat sollte schneller verfliegen als das knappe Geld und trotzdem langsam voranschreiten, um die kalte Jahreszeit und das Älterwerden hinauszuzögern.
„Der Zweiundzwanzigste!“, sagte Nina und rupfte hastig das Blatt vom Abreißkalender, so dass das restliche Jahr am langen grünen Faden ins Baumeln geriet wie ein Gehenkter. Sie las die Weisheiten, Gedichtzeilen, besonderen Begebenheiten auf der Rückseite und packte den Zettel in die Tasche, um am nächsten Morgen in der Schule alles an die Tafel zu schreiben.
Jedenfalls läutete Nina das Ende eines jeden Tags bereits am frühen Abend ein.
„Du hast es aber eilig, den Tag wegzuwerfen. Wart’s ab! Bald wirst du dir wünschen, die Zeit zurückdrehen zu können, und wenn es nur ein Tag ist!“ Großmutter, Mutter, Vater, Geschwister - alle regten sich auf, weil sie mit dem Abreißen nicht wartete, bis heute gestern wäre.
Zu Hause glich ein Tag dem anderen. Morgen wie gestern, heute, vor zehn Jahren, in fünf Jahren. Nina wurde sieben, dreizehn, siebenundzwanzig, vierunddreißig. Die täglich wechselnden Zahlen und Zitate auf dem Kalender wiederholten sich irgendwann. Und an Großmutters „i“ änderte sich auch nichts.
„Naiiiiiiiima, was machst du? Wir haben keine Zeit!“
Nina verstand nicht. Sie hatte doch welche. Alle Zeit der Welt. Tage im Überfluss. Denn sie hob jeden einzelnen auf. In Heften, an den Wänden, in Kisten, unter dem Bett, auf dem Schrank. Immer mehr Zeit sammelte sie um sich herum an, Jahr um Jahr in Kopie. So konnte sie, sooft ihr danach war, zurückgehen und neu ordnen. Die glücklichen Tage bewahrte sie in einer kleinen Holztruhe auf, verschließbar mit einem goldfarbenen Plastikschlüssel, der sich aber irgendwann nicht mehr drehen ließ. Die traurigen kamen außer Sichtweite. Die trägen unters Bett. Die verhassten, gegen die sie nichts ausrichten konnte, verbrannte sie und streute die Asche in eine rostige Büchse. Manche Tage markierte sie mit Eselsohren oder Kreisen neben dem Datum. Das waren solche, über die man lieber schwieg.
Nina hortete die Tage. Für später. Für Zeiten, von denen sie träumte. Wo sie unbeschwert sein würde. Anders als jetzt im Gemenge von Keif-Oma, Glucken-Mutter, Miesepeter-Vater, Raudi-Geschwistern, gemeinen Klassenkameradinnen und Lehrerinnen, aufdringlichen Verwandten, neugierigen Nachbarn und dem allgemeinen Elend. All das beherrschte ihr Leben jetzt. Dabei zählten für sie nur diese wunderbar leichten Zettel.
08.08.2021
Versuch 7
Ich will … will über ein Mädchen namens Nina schreiben. Sie sitzt da, umhüllt von flatternden Blättern. Wirkt dort im Zentrum wie ein Halm, der sich kaum aufrecht halten kann. Aber ich verliere mich in dem Blätterwust. Nina besteht aus Zettelschichten, Weisheiten, Gedichtversen, Aussprüchen von klugen Berühmtheiten, Zitaten aus Filmen, Liedern, Büchern, Zeitungen, Magazinen. Die Anführungsstriche bestimmen Ninas gesamtes Sagen und Tun wie Jahresringe das Alter eines Baumes. Mit jedem noch so gewichtslosen Zettel wird sie schwerer und ihre Stimme lauter und schriller. Quietschend wie die Kreide, mit der sie die beiden Verse von der Rückseite des Kalenderblatts an die Tafel schreibt. „Aufhören!“, schreien alle mit abgewandtem Gesicht und zusammengekniffenen Augen. Die Lehrerin zeigt kein Wohlwollen, die einzige Freundin keine Bewunderung und die anderen keinen Neid, wie sie sich am Abend zuvor erträumte, als sie die Verse auswendig lernte.
15.05.2022
Versuch 21
Zitatende.
03.01.2022
Versuch 19
Ich will …
18.05.2022
Versuch 27
Ich lehne den Kopf an den Rand und frage mich, auf welcher Seite ich mich befinde.
Ich wollte über ein Mädchen namens Nina schreiben, fand in dem Blätterwust aber nicht durch zu ihr. Sobald ich versuchte, ihrer Stimme die Anführungsstriche zu nehmen, tauchte ein langgezogenes, heiseres „i“ auf und die Wörter blieben auf der Strecke. Die Sprache entglitt mir und Schweigen erfüllte mich. Ich wurde zu einer Art hohlem Gott mit 99 Namen für Schwermut und Einsamkeit. Und dein Name, Nina, war der erste.
Du schaust mich an, mein Herz zerbröselt.
Ich schwinde in dir, Körnchen um Körnchen in einer Sanduhr.
Bis dein erneuter Blick mich wieder füllt.
Ich, Nina, saß da, umhüllt von flatternden Blättern. Wirkte im Zentrum wie ein Halm, der sich kaum aufrecht halten konnte. Schwermut strahlte aus mir, so leise sie auch war, strahlte lichtförmig. Ich wünschte, ein Mädchen, vielleicht mit Namen Nina, würde vorbeikommen, die Blätterhülle betrachten, dann mich, die sich halmähnlich kaum aufrecht halten kann. Ich wünschte, die Kleine würde meine Hand nehmen und loslaufen und die Blätter würden sich zu einer langen, bunten Girlande entfalten und ihr flatternd folgen, bis Nina abhebt wie ein Papierflieger im gleißenden Licht.